SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

16MRZ2020
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Mir ist es wichtig, jeden Menschen, mit dem ich zu tun habe, zu respektieren. Aber das ist manchmal gar nicht so einfach. Wenn ich mich von jemanden schlecht behandelt fühle, kann ich mich schwer beherrschen und werde manchmal unhöflich und laut. Z.B., wenn ein Kundendienstbetreuer mein Anliegen am Telefon nicht ernst nimmt und mich offensichtlich mit einer Ausrede vertröstet. Solche banalen Erfahrungen wecken in mir immer wieder Zweifel an meinen großen Idealen.

Was mir hilft, ist ein Gedanke von dem österreichischen Dichter Franz Werfel. Werfel meint, dass in jedem Menschen ein göttliches Licht auf seine Entfaltung wartet. Egal, wie der Mensch sich benimmt. Für Werfel hat jeder Mensch dieses Potential, dass Gott in ihm zum Vorschein kommen kann. Deshalb nimmt er sich vor, niemals mehr einen Menschen zu verurteilen.

Werfel hat vermutlich ähnliche Erfahrungen wie ich mit anderen Menschen gemacht. Er weiß, wie es ist, wenn man um seine Haltung ringt. Und Werfel kennt das in noch ganz anderen Dimensionen. Werfel hat jüdische Wurzeln und er hat in der Zeit des Nationalsozialismus deutlich erlebt, wie es ist, wenn Leute andere Menschen nicht mit Respekt behandeln, sondern in Klassen einteilen, sich über sie stellen und sie systematisch ermorden. In einem Gedicht geht er auf genau diese Täter-Typen ein. Er beschreibt sie, wie sie sich nicht mehr als Menschen zeigen, und bezeichnet sie alsMenschenfresser.

Was mich an Werfel begeistert: dass er über diese Denkschubladen hinauskommt. Obwohl er erlebt, was Menschen anderes Schlechtes antun können, teilt er sie nicht in gute und schlechte ein. Das wäre ja auch nur Gleiches mit Gleichem vergolten. Und die, die Böses tun, hätten dann ja sogar noch die Macht, auch seine Einstellung zu verändern. Das will er ihnen nicht gestatten.

Werfel kommt zu dieser Einstellung, weil er als überzeugter Jude darauf wartet, dass der Messias kommt. Und weil der Messias in jedem Menschen ankommen könnte, versucht Werfel so wachsam auf die Menschen zuzugehen. Auch auf die, die sich nicht menschlich zeigen. Für ihn ist allein schon die Möglichkeit, dass Gott diesen Menschen erwählt haben könnte, Grund genug, Respekt vor ihm zu haben.

Das passt auch für mich als Christ. Wenn ich mich nächstes Mal über jemanden ärgere, will ich den Menschen auch mit diesem Blick anschauen, mit dem ich hinter der Fassade eines unfreundlichen Gesichts den Ort ahne, wo der Heiland sein könnte.

 

Franz Werfel: Was ein Jeder sogleich nachsprechen soll.

Niemals wieder will ich

Eines Menschen Antlitz verlachen.

Niemals wieder will ich

Eines Menschen Wesen richten.

 

Wohl gibt es Kannibalen -Stirnen.

Wohl gibt es Kuppler-Augen

Wohl gibt es Vielfraß-Lippen.

 

Aber plötzlich

Aus der dumpfen Rede

Des leichthin Gerichteten,

Aus einem hilflosen Schulterzucken

Wehte mir zarter Lindenduft

Unserer fernen seligen Heimat,

Und ich bereute gerissenes Urteil.

 

Noch im schlammigsten Antlitz

Harret das Gott-Licht seiner Entfaltung.

Die gierigen Herzen greifen nach Kot -

Aber in jedem

Geborenen Menschen

Ist mir die Heimkunft des Heilands verheißen.

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