SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

05MRZ2020
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Ich gehe unheimlich gerne Essen. Mit meinem Mann, meinen Freund*innen, meiner Familie. Ich liebe die Atmosphäre eines guten Restaurants und den Zauber der Küche. Ein junger Mann, den ich kenne, macht seit mehr als einem Jahr seine Ausbildung bei einem Sterne-Restaurant. Wenn ich ihn treffe, bin ich immer ganz neugierig. Ich will wissen, wie es ihm da geht und was er Neues gelernt hat.

Als ich ihn vor einem Monat treffe, erzählt er mir, dass er seit Januar nicht mehr dort arbeitet. Ich bin erst einmal ziemlich überrascht – ein so tolles Sterne Restaurant, das macht sich doch bestimmt nicht schlecht im Lebenslauf. Das muss doch eine Riesenchance sein. Aber er sagt mir: „Von uns gibt es so wenig. Und trotzdem hat der Betrieb es nicht verstanden, dass der Mensch das Wertvollste und Wichtigste überhaupt ist.“ Ihm ist es wichtig, dass er und seine Kolleg*innen als Mitarbeiter*innen gut behandelt werden. Und das ist wohl nicht immer der Fall.

Dieser junge Mann ist unglaublich hilfsbereit und fleißig, deshalb bin ich mir sicher, dass er sich diese Entscheidung nicht einfach gemacht hat. Er erzählt mir von Aufgaben, die früher von drei Angestellten erledigt wurden und heutzutage von einem Einzigen geleistet werden müssen. Von Abläufen in der Küche, die seit Jahren nicht mehr überarbeitet wurden, obwohl sich die Belegschaft halbiert hat. Und dass immer mehr Kolleg*innen unter diesen Umständen leiden. Genau das hat ihn zu der Entscheidung gebracht: Er ist ein wertvoller Mensch und hat es verdient, respektvoll und würdig behandelt zu werden. Und das lässt er sich für nichts auf dieser Welt nehmen. Auch nicht für einen Abschluss in einer namhaften Küche.

Mich beeindrucken seine Klarheit und Sicherheit sehr. Denn damit liegt er so gar nicht im Trend. In vielen Branchen der Arbeitswelt ist der Mensch immer weniger wert. Ich muss dabei sofort an den Bereich der Pflege denken. Dort werden Angestellte sehr schlecht bezahlt, aber müssen wahnsinnig viel leisten, und das unter großem Zeitdruck. Ich denke, unter solchen Bedingungen ist es schwer, seine Aufgaben noch gut und gewissenhaft erledigen zu können. Und gewissenhaft bedeutet nicht nur, Verantwortung für die Arbeitsbereiche zu übernehmen, sondern auch für sich selbst.

Klar, Arbeit ist kein Wellnessbereich, sondern da, um Brötchen zu verdienen – aber das ist meiner Meinung nach nur dann möglich, wenn an erster Stelle immer der Mensch steht. Und daran nichts vorbeiführt. Deshalb bin ich dem jungen Mann dankbar, dem der Wert des Menschen nicht nur wichtig ist, sondern der auch die Konsequenzen daraus zieht; der aussteigt aus diesem System, auch wenn er dann nicht mehr die Ausbildung in DEM großen Sternerestaurant macht. Der Preis ist hoch, aber der Einsatz noch viel höher: Dass es ihm gut geht und er weiß, dass er wertvoller ist als jeder Gourmetstern dieser Welt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=30449
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