SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

05FEB2020
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Jedes Jahr mache ich mit einer kleinen Gruppe aus unserer Gemeinde eine Reise. Im vergangenen Jahr hatten wir uns etwas Besonderes vorgenommen: Reisen mit Bahn und Linien-Bus.

Der erste Reiseabschnitt bis nach Basel klappte zur allgemeinen Zufriedenheit. Bei der Weiterfahrt erwartete uns dann aber das komplette Bahnchaos: Sonntagabend, viele Pendler wollten zurück zum Arbeitsort und: der Zug war halbiert worden, statt 6 Wagen waren nur drei gekommen. Unsere kleine Gruppe, die meisten waren ältere Damen, quetschten sich erst einmal in den Zug. Irgendwie mussten wir ja weiterkommen. Nach dem Einstieg stellten wir fest, dass alle Plätze besetzt waren und auch in den Gängen standen Leute. Ein Durchkommen war unmöglich. Also standen wir erst einmal in der ruckeligen Bahn, die alles dafür tat, uns ordentlich durchzuschütteln: zügiges Anfahren, scharfes Bremsen, Halt an jedem kleinen Bahnhof. Wollte jemand aussteigen, so mussten die Gäste an der Tür zunächst raus, um die Fahrgäste hinter sich durchzulassen. Dann wieder schnell in den Zug, die nächsten Mitfahrer drängten schon.

Aber zu meiner Verwunderung gab es unter allen Mitreisenden, nicht nur in unserer Gruppe, eine ausgesprochen gute Stimmung. Rempler wurden mit einem freundlichen „Macht nichts“ kommentiert. Mit der Hilfe einiger junger Männer wurden Koffer hin und her gewuchtet und nach einigen Stationen hatten einige von uns auf den Notsitzen einen Platz gefunden. Von der guten Stimmung wurden auch alle andern angesteckt, die in den überfüllten Zug kamen und erst mal tief durchatmeten. „Wie soll das hier über Stunden gehen?“ Durch die Fröhlichkeit und Gespräche mit den oft unbekannten Leidensgenossen, ließ sich die anstrengende Bahnfahrt gut aushalten. Einer der jungen Männer bezeichneten unsere älteren Damen als „flotte Weiber“ und wurde sogar eine wenig rot, als er merkte, dass wir seinen Spruch mitgehört hatten und darüber lachen mussten.

Mich hat diese Erfahrung noch länger beschäftigt. Die Situation hatte viel Potential in Ärger und gegenseitiger Beleidigung oder in einen Kampf um die wenigen Plätze umzuschlagen. Nichts davon war passiert. Ich denke auch deswegen, weil viele Mitreisende sich auf die Situation eingelassen haben – zu ändern war sie ja sowieso nicht. Die goldene Regel „was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“ hatte uns einen guten Urlaubsanfang ermöglicht. Ich habe seitdem öfter an diese Erfahrung gedacht und merke: so wie ich auf andere zugehe, so fällt die Antwort aus: Ein Lächeln bekommt oft ein Lächeln zurück. Nichts wirklich Neues, aber etwas, das ich mir immer wieder mal vor Augen halten muss, weil es mir und anderen guttut.

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