SWR2 Wort zum Tag

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01FEB2020
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Er wollte keine Geheimnisse vor ihr haben. Er wollte nichts vor ihr verbergen und sie sollte sich keine Illusionen über ihn machen. Alles sollte seine zukünftige Frau über ihn wissen, alles. Darum gab Lew Tolstoi, der berühmte russische Schriftsteller, seiner unschuldigen, wesentlich jüngeren Verlobten alle seine Tagebücher. Er wollte ehrlich sein, obwohl er sich seiner eigenen Vergangenheit auch schämte. Er hatte mit Dutzenden von Frauen geschlafen, er hatte einen Teil seines Erbes verspielt, er hatte ein uneheliches Kind.

Sofia nahm die Tagebücher ihres zukünftigen Ehemannes, las sie – und war entsetzt. Als sie ihm die Aufzeichnungen am nächsten Tag zurück gab, hatte sie verweinte Augen. Sie verstand nicht mehr, warum sie diese abscheulichen Berichte überhaupt hatte lesen sollen. Will man denn wirklich von dem anderen alles wissen? Die nackte Wahrheit erfahren? Auch auf die Gefahr hin, dass sie verletzt, dass sie hässlich und eine Zumutung ist?

Mit 18 Jahren hätte ich auf diese Frage geantwortet: Auf jeden Fall! Da soll alles auf den Tisch. Man will den anderen und auch sich selbst wirklich und auch noch in seinen Abgründen kennen lernen. Ich war ein Anhänger des Seelen-Exhibitionismus. Ich wollte immer wissen, wie der andere „eigentlich“ ist.

Aber an dieser Einstellung habe ich immer mehr Zweifel bekommen. Hat der andere nicht auch das Recht, für sich zu behalten, was er für sich behalten möchte? Und habe ich die Kraft, auch die dunklen Abgründe des anderen zu ertragen? Hat er nicht auch das Recht, sich selbst zu schützen und zu verschweigen, woran zu rühren für ihn vielleicht nicht gut wäre? Darf er sich nicht auch seiner nackten Seele schämen dürfen – und darum schweigen? Verstehe ich den anderen wirklich tiefer, wenn ich alles von ihm weiß? Wenn ich ganz dicht vor einem Bild stehe, sehe ich es ja gar nicht mehr.

Lew Tolstoi, der Spieler und Frauenheld, der geniale Schriftsteller und tyrannische Ehemann, hat sich für das Christentum stark gemacht. Seine Frau schrieb darüber in ihrem Tagebuch: „Er hat sich zum Christentum bekehrt. Das Martyrium aber habe ich, nicht er, durchgemacht.“ Ist die nackte Wahrheit über uns Menschen möglicherweise nur für Gott zu ertragen? Von ihm heißt es: Er kennt uns von Anfang an und besser noch, als wir uns selber kennen. Vielleicht muss das genügen.

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