SWR3 Gedanken

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Haben Sie heute morgen Ihr gutes Stück um den Hals gebunden? Die feine Seidenkrawatte mit den dezenten Streifen? Haben Sie sich dergestalt gut gerüstet auf den Weg zu Ihrem Arbeitsplatz gemacht? Ist Ihr sogenannter „Kulturstrick“ noch immer unversehrt? Dann sollten Sie ihn jetzt besser vom Hals reißen und in Sicherheit bringen. Denn als Mann gehören sie heute zu einer gefährdeten Gattung.

Womöglich haben sich Ihre Kolleginnen heute morgen gleichfalls auf den Weg zu ihrem Arbeitsplatz gemacht. Allerdings nicht mit Krawatten geschmückt, sondern mit Scheren bewehrt. Und womöglich kramt gerade eine dieser Kolleginnen die Schere aus der Tasche und macht sich mit lüsternem Blick auf den Weg. Um dieses so ausgesprochen männliche Kleidungsstück zu zerstören. Schnipp, schnapp, in zwei Teile.

Denn heute ist Altweiberfasnacht. Und zumindest im Rheinland gilt dieser Tag als inoffizieller Feiertag. Aber auch außerhalb der klassischen Fasnachtshochburgen nutzen die Frauen heute ihre Chance, um die Fasnacht an sich zu reißen. Und das tun sie bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts.

Damals rissen sie sich noch gegenseitig die Hauben vom Kopf. Als Zeichen einer fröhlichen Rebellion gegen die herrschenden Moralvorstellungen. Weil damals für eine anständige Frau die Haube ungefähr so zwingend war wie heute die Krawatte für den seriösen Herrn. Wen wundert’s, dass die fröhliche Rebellion sich bald gegen ganz andere herrschende Moralvorstellungen wandte. Und die hatten viel mit der Macht der Männer zu tun. Die wollte man beschneiden. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und sei es nur für einen Tag.

Von der fröhlichen Rebellion ist heute freilich kaum mehr geblieben als ein putziger Brauch. Dennoch ist heute eine gute Gelegenheit, in aller Heiterkeit ein wenig nachzudenken. Über herrschende Moralvorstellungen und die Kraft fröhlicher Rebellionen. Es müssen ja nicht gleich Krawatten sein. Aber in unserem Denken finden sich sicher noch ein paar alte Zöpfe, die man locker abschneiden könnte. Schnipp, schnapp, weg damit.
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