SWR2 Wort zum Tag

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Die Erlöserkirche in unserer Gemeinde wird in diesem Jahr hundert Jahre alt. Wie viele Kirchengebäude ist sie eine gute Orientierung, wenn Leute ihren Weg durch das Stadtviertel suchen. Noch wichtiger aber ist für mich, dass an ihr Menschen gearbeitet und gewirkt haben, die meinem Nachdenken bis heute Orientierung und Anstöße geben. Vielleicht ist das auch in Ihrem Umfeld so. Das, was Menschen früher sagten und taten, ist nicht einfach Geschichte, sondern eine konkrete Anfrage an uns heute.

Zu den beeindruckenden Gestalten der ersten Jahre unserer Gemeinde gehört Pfarrer Otto Umfrid. Er war zunächst in der benachbarten Martinskirche gewesen, die in einem Arbeiterviertel der Stadt in der Nähe des Bahnhofs liegt. Beide Kirchen gehören heute zu unserer Gemeinde.

Als Pfarrer im Bahnarbeiterviertel auf der Prag setzte er sich für die Belange der Arbeiterschaft in der wachsenden Stadt ein. Denn ihm bot sich in manchen Stadtquartieren ein Bild sozialen Elends. Er beschreibt es so: „Eine Arbeiterfamilie ist nicht in der Lage, gleichzeitig sich satt zu essen, gesund zu wohnen und ausreichende Kleidung zu besitzen.“

Umfrid setzte sich konsequent für das soziale Engagement der Kirche ein. Damit eckte er natürlich an. Umfrid berichtet nach einem Bibelabend, den er in einer der großen Kirchen Stuttgarts gehalten hatte, von folgendem Gespräch: „Später fragte mich ein konservativer Gemeinderat auf dem Rathaus, wo ich zu einer Beratung in Armenangelegenheiten gewesen sein musste: Wissen Sie, dass Sie Ärgernis gegeben haben? – Ja, sagte ich, unser Herr Christus hat auch bisweilen Ärgernis gegeben! – Sie sind noch lange kein Christus, erwiderte er gereizt. – Das habe ich mir auch nicht eingebildet, war meine Antwort, aber er hat uns ein Vorbild gefasst, dass wir sollen nachfolgen seinen Fußstapfen! In die Kathedrale wurde ich von dieser Zeit an nie mehr berufen.“

Umfrid eckte jedoch nicht nur an, er hatte auch Mitstreiter in diesen Fragen. Große, auch materielle Unterstützung fand er in dem Fabrikanten und Unternehmer Paul Lechler, der als ehrenamtlicher Armenpfleger im Bahnarbeiterviertel und Sozialreformer nicht nur die Kirchengemeinde tatkräftig unterstützte, sondern neben vielem anderen zum Beispiel auch ein Büro zur unentgeltlichen Arbeitsvermittlung für Arme gründete. Paul Lechler ging in bewundernswerter Konsequenz in den „Fußstapfen Jesu“ und schöpfte dabei seine Möglichkeiten aus. Heute ist aus seinem Engagement eine Stiftung geworden und ein Sozialpreis wird in seinem Namen verliehen.

Der Pfarrer und der Unternehmer gingen jeder auf seine Weise in den Fußstapfen Jesu. Die Erinnerung an die beiden ist für unsere Gemeinde eine Art Verpflichtung, die sagt: Versucht es auch.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=3007
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