Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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03JAN2020
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Um rund zwanzig Prozent sei er angestiegen, der Andrang von alten Menschen bei den Tafeln. Der Bundesverband der Tafeln in Deutschland hat das vor kurzem bekannt gegeben. Die Zahl wundert mich nicht. Denn fast jeden Tag, wenn ich am Bahnsteig auf meinen Zug warte, sehe ich sie und mir scheint, es werden mehr. Alt gewordene Menschen, die mit einer großen Tasche den Bahnsteig entlanglaufen. Am Mainzer Hauptbahnhof, an dem ich oft bin, fallen sie kaum auf. Fast beiläufig steuern sie die Mülleimer an. Der alte Mann, den ich manchmal mit seiner großen Plastiktasche den Bahnsteig entlanggehen sehe und der aufmerksam in jede Abfalltonne schaut. Oder die alte Frau, die gebückt ihren Trolley hinter sich herzieht. Voll mit gesammelten Pfandflaschen und leeren Bierdosen. Es sind Menschen, die längst ihre Rente „genießen“ sollten, wie das manchmal heißt. Bei denen es aber am Ende eines langen Lebens zum „Genießen“ nicht reicht. Solche Bilder sind längst normal geworden. Aber es sind unwürdige Bilder. Mir tun sie weh. Ich kann und will ich mich nicht daran gewöhnen. Nicht in einem der reichsten Länder dieser Erde.

Dennoch ist es ein echter Segen, dass es die Tafeln gibt. Ebenso wie unzählige Initiativen und Einrichtungen der Kirchen und der Wohlfahrtsverbände. Dort geschieht millionenfach praktizierte Nächstenliebe. Allein bei den 947 Tafeln in Deutschland engagieren sich mehr als 60.000 Menschen in ihrer Freizeit, damit auch Arme gute Lebensmittel bekommen. Zugleich ist es ein Skandal, dass es sie geben muss. Der Journalist Heribert Prantl meinte vor kurzem dazu: „Jede Tafel ist eine Anklage. Es gibt also in Deutschland 947 Anklagetafeln; sie klagen auch darüber, dass der Staat Privatleute machen lässt, was eigentlich seine Pflicht ist.“[1] Er meint damit: Sich ganz besonders um die Schwächsten der Gesellschaft zu sorgen. Und ja, vielleicht hätte das auch für mich Konsequenzen. Ich habe mehr, als ich zu einem guten Leben brauche. Und sicher wäre nicht nur ich bereit, auch ein klein wenig mehr davon herzugeben. Regelmäßig und nicht nur als gelegentliches Almosen. Wenn dadurch wenigstens kein alter Mensch mehr am Ende seines Lebens im Müll wühlen müsste.

 

[1] https://www.sueddeutsche.de/politik/ehrenamt-tafeln-sozialstaat-1.4714947-0

https://www.kirche-im-swr.de/?m=30064
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