Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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10JAN2020
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„Ein Junge weint nicht“, hat man früher gesagt; das hat als „unmännlich“ gegolten. - Und ich bin froh, dass wir dieses Denken weithin überwunden haben: Auch Männer dürfen heute Gefühle zeigen.

Aber: wirklich immer und zu jeder Zeit? - Ist das gut? Ich erlebe auch Situationen, da sind Menschen mit den Gefühlsausbrüchen anderer überfordert. Vor allem in Grenzsituationen.

Ich denke z.B. an eine Patientin, die ich im Krankenhaus besucht habe; weit über achtzig und schon sehr geschwächt. Als ich das Zimmer betreten habe, war die ganze Familie an ihrem Krankenbett versammelt. Deshalb wollte ich gar nicht groß stören; nur kurz „Hallo“ sagen und gleich wieder verschwinden...

Aber die alte Dame hat mich an ihr Bett gewinkt. Ich trete näher, und sie winkt weiter, bis ich ganz dicht an ihrem Gesicht bin. Da flüstert sie mir ins Ohr: „Bitte, schicken Sie alle raus!“

Ich bitte die Angehörigen, uns für einen Augenblick alleine zu lassen. Dann setze ich mich zu ihr. Und sie erzählt, was sie auf dem Herzen hat: „Ich ertrage das nicht länger, wie sie alle weinen,“ sagt sie.

„Meine Söhne sind doch längst erwachsen und haben selber Kinder! Und ich bin schon so alt – da ist es doch normal, dass man geht. Aber die weinen, als würde die Welt untergehen. Wie soll man da in Ruhe sterben können?“

Diese Frau hätte sich gewünscht, dass ihre Angehörigen sich mit ihren Gefühlen zurücknehmen. Die vielen Tränen haben sie belastet. Sie war ja schon viel zu schwach, um ihre Angehörigen auch noch zu trösten...

Damit sind die meisten Sterbenden überfordert. Sie sehnen sich nach einem ruhigen, friedlichen Umfeld. In dem die Uhren etwas langsamer ticken. Und alles etwas gedämpfter zugeht. Auch die Gefühlsäußerungen.

Und ich glaube: Das ist zu machen. Man kann ja vor dem Besuch am Krankenbett weinen, wenn einem danach ist. Und hinterher. Aber manchmal ist es wichtig, den Tränen Einhalt zu gebieten: Aus Liebe zu denen, die gerade einen schweren Weg vor sich haben, und Menschen um sich brauchen, die ihnen beistehen.

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