SWR2 Wort zum Tag

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04DEZ2019
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Schon wieder ist ein Jahr fast vorbei. Das Leben ist kurz. Aber was hilf es, darüber zu jammern? Dem römischen Philosophen Seneca jedenfalls, der in etwa zur selben Zeit wie Jesus von Nazareth lebte, ging das ewige Klagen über die Kürze des Lebens mächtig auf die Nerven. Schon zu seiner Zeit, die nach unsere Vorstellungen ja noch im Schneckentempo dahin kroch, jammerte alle Welt: Keine Zeit! Das Leben ist zu kurz!

Seneca schrieb darum eine kleine Betrachtung über die „Kürze des Lebens“. Darin erklärte er: Nicht euer Leben ist zu kurz geraten. Vierzig, fünfzig Jahre sind ja doch eine ganz beträchtliche Zeitspanne. Aber ihr verbringt eure Zeit einfach mit unendlich vielen überflüssigen Dingen. Ihr stehlt euch gegenseitig das Beste was ihr habt: eure Lebenszeit.

Aber was statt dessen? Senecas Rat: Lerne zu leben – und lerne zu sterben. „Jetzt, solange das Blut noch warm, das Leben noch frisch ist, müssen wir uns an das Bessere machen“, schreibt er. Und es sei einfach besser, sich mit der Frage nach dem Göttlichen, mit der Frage nach der Seele und dem Wesen der Natur zu beschäftigen als ewig darüber nachzugrübeln, ob die Frisur richtig sitzt.

Interessant nun, zu erfahren, womit die Menschen vor ungefähr 2000 Jahren nach Ansicht von Seneca ihre Zeit vergeudeten: Der eine ist gefangen in „unersättlicher Habgier“, der andere „dämmert im Nichtstun dahin“. Manche gönnen sich keine Ruhe, weil sie unentwegt „Geschäfte machen wollen in der Hoffnung auf Profit.“ Andere sitzen stundenlang auf dem Sportplatz herum oder gehen jeden zweiten Tag zum Friseur: „Das sind Leute, bei denen eher ihr Staat in Unordnung geraten darf als ihre Frisur“, spottete Seneca.

Seneca war der Überzeugung. Die Menschen unterfordern sich mit all diesen zeitraubenden, leeren Beschäftigungen. Er schreibt: Immer wieder schiebt ihr euer Leben auf und sagt: Das mache ich, wenn ich Zeit habe, irgendwann später. Ohne daran zu denken, dass es vielleicht kein „später“ mehr für euch geben wird.

Seneca war kein Christ. Aber zum Beispiel im Ulmer Münster findet man seine Büste neben denen anderer antiker Gelehrter. So ehrten die Ulmer damals die Männer, die sich über ein richtiges Leben Gedanken machten. Bald ist das alte Jahr zu Ende. Aber noch bleibt Zeit, um Senecas Ratschlag einmal auszuprobieren: jetzt, solange das Blut noch frisch ist, sich mit der Frage nach dem Göttlichen, der Seele und der Natur zu beschäftigen.

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