SWR3 Gedanken

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24NOV2019
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Man sieht es ihm nicht an: Er trägt keine Kippa. Er könnte auch Christ sein, oder Muslim oder Atheist.  Ist er aber nicht, er ist Jude. Der Erste, den ich einfach so kennenlerne. Als ich den älteren Mann nach dem Weg frage und wir ins Gespräch kommen. Er heißt Jitro. Klingt hebräisch, und ist es auch.  Und bedeutet übersetzt: „Morgendämmerung“. In der Morgendämmerung von Jitros Leben, gab es schon viel Bewegung: Er wurde in Bayern geboren, seine Eltern überlebten den Holocaust und wanderten als er noch ein Kind war 1948 mit ihm nach Israel aus. Auf einer Weltreise entschied er sich dann wieder für Deutschland als seine Heimat. „Heimat ist da, wo du dich wohlfühlst“, sagt er.  Mir fallen sofort die zahlreichen antisemitischen Angriffe auf Juden ein. Und ich frage ihn: „Fühlst du dich denn hier wohl?“ Da legen sich Sorgenfalten auf Jitros Stirn: „Ich bin noch nicht persönlich angegriffen worden, aber ich spüre: Der Ton wird rauher, es ist nicht einfach momentan.“

Wir sprechen auch über unseren Glauben: Über die gemeinsamen Wurzeln, die er als Jude und ich als Christ teilen. Über den Glauben an den einen Gott, der ihn und mich erschaffen hat. Und ich will wissen, ob er auch in die Synagoge geht: „Nicht so regelmäßig. Aber zu den Feiertagen immer. Morgen gehe ich, dann feiern wir Jom Kippur, unser Versöhnungsfest“. Und als Jitro mir das erzählt, leuchten seine Augen und ich entdecke auch wieder die die Lachfalten in seinem Gesicht.

Einen Tag nachdem ich Jitro kennengelernt habe, verübt ein rechtsextremer Terrorist in Halle einen Anschlag auf eine Synagoge. Zwei Menschen sterben. Als ich das höre, muss ich sofort an Jitro denken: Er lebt nicht in Halle, aber er hätte auch in dieser Synagoge sitzen können. Ich will nicht in einem Land leben, in dem Juden angefeindet werden. Ich will in einem Land leben, in dem Jitro ohne Angst leben, beten und feiern kann.

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