SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

25NOV2019
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Eine fremde Frau sagt zu meiner Tochter: „Wenn du weinst, siehst du gar nicht mehr schön aus“. Meine Tochter ist auf den Bordstein gefallen und hat sich das Knie aufgeschürft. Es tut ihr weh; außerdem ärgert sie sich, dass das mit dem Fahrradfahren nicht immer ganz so schnell klappt, wie sie das möchte. Ich nehme meine Tochter in den Arm und tröste sie.

Als die fremde Frau meiner Tochter sagt „Wenn du weinst, siehst du gar nicht mehr schön aus“, werde ich richtig wütend. Zum einen finde ich das ganz schön sexistisch. Meine Tochter muss nicht schön aussehen; genauso wie Jungs keine tapferen Indianer sein müssen. Zum anderen: Seit wann sind Tränen nicht schön?  Machen uns Tränen etwa hässlich? Und wenn ja, ist es wirklich wichtiger, wie wir aussehen und nicht was wir fühlen oder brauchen?

Mit Tränen drücken wir unsere Gefühle aus. Wenn ich weine, mache ich meinen Mitmenschen deutlich, dass ich traurig, enttäuscht, verzweifelt bin; oder auch glücklich und gerührt. Ich kommuniziere mit meinen Tränen, zeige anderen damit, wie ich mich fühle. Und ganz wichtig: Wenn ich weine, weiß mein Gegenüber nicht nur, wie es mir geht, sondern fühlt automatisch mit mir mit. Denn Psycholog*innen wissen schon lange: Tränen erzeugen Mitgefühl. Und das ist auch wichtig für unser Zusammenleben: Damit ich als Mutter weiß, wann mein Kind Hilfe braucht; damit ich in meiner Beziehung weiß, wann mein Partner traurig oder von mir enttäuscht ist; damit ich als Schwester weiß, wann mein Bruder wütend ist; oder damit ich weiß, wenn ich selbst überfordert oder gerührt bin.

Vielleicht finden manchen Menschen ja auch das so unschön: Dass Tränen auffordern, mitzufühlen. Und man nicht immer in der Lage ist, das zu tun. Weder als Mutter, als Partnerin, als Schwester oder als fremde Frau auf der Straße. Das ist in Ordnung und völlig normal. Trotzdem finde ich: Tränen sollten auf keinen Fall schlecht geredet oder gar verboten sein.

Tränen helfen, uns gegenseitig besser zu verstehen, weil sie ehrlich sind. Wenn meine Tochter weint, dann spüre ich: Gott hat diesen kleinen Menschen ganz menschlich geschaffen – mit Gefühlen, mit Bedürfnissen. Sie ist verletzlich. Und braucht Unterstützung. Und deshalb hat Gott sie mir anvertraut, damit ich ihr Trost spende, wenn sie weint und ich für sie da bin, wenn sie mich braucht.

Als meine Tochter das nächste Mal weint, schaue ich sie mir genau an. Ihre großen Augen füllen sich mit dicken Tränen, ihre Unterlippe rollt sich nach unten und sie breitet ihre Arme aus, weil sie Trost braucht. Ich freue mich, dass sie mir zeigen kann, wie es ihr geht und ich für sie da sein darf. Ich gucke sie an und sage ihr: „Du bist wunderschön“. Und nehme sie fest in den Arm.

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