Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Als der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch noch ein junger Arzt war, arbeitete er in einem Diakonissenkrankenhaus. An einem Samstagabend wurde ein Mann eingeliefert, der hohes Fieber und eine gefährliche Geschwulst hatte. Am Sonntagmorgen stellte Sauerbruch bei der Visite fest, dass keine Zeit mehr zu verlieren war. Er ließ den Kranken in den Operationsraum bringen. Die Operationsschwestern legten schon Spritzen und Skalpell bereit. Gerade eben hatte Sauerbruch den Mundschutz umgetan, da begannen die Kirchenglocken zu läuten. Beim ersten Glockenton verließen die Schwestern den Operationssaal und eilten in die Kirche. Verdutzt stand Sauerbruch allein mit dem Kranken da. Dann aber wurde er wütend. In seinem weißen Kittel rannte er in die Krankenhauskapelle, unterbrach den Prediger und sagte: „Bitte, einen Augenblick, Herr Pfarrer! Im Operationssaal liegt ein Mensch. Der wird sterben, wenn Sie nicht sofort die Schwestern wieder zur Arbeit schicken.“ Der Pfarrer hatte Einsehen. Er forderte die beiden auf, ihrem Chef zu folgen. Die Oberschwester aber blieb empört. Sonntag ist Sonntag, erklärten sie, da geht der Gottesdienst vor. Und sie zeigte Sauerbruch an – wegen Störung eines Gottesdienstes und Missachtung der Sonntagsheiligung.

Der Sonntagsschutz ist eine gute und gesunde Tradition. Und „gesunde Traditionen“, hat einmal ein Theologe gesagt, „sind wie Laternenpfähle. Sie leuchten einem den Weg. Doch nur ein Betrunkener hält sich an ihnen fest.“
Niemand käme heute auf die Idee, eine notwendige Operation mit Hinweise darauf zu verschieben, dass nun Gottesdienst gefeiert werden müsste. Dem Nächsten helfen, so gut es nur geht. Doch so wichtige es sein kann, dass Ärzte und Krankenschwestern am Sonntag arbeiten, so überflüssig ist es, sich am Sonntag eine Waschmaschine zu kaufen oder ein paar neue Schuhe. Darum ist die Kirche gegen die Sonntagsöffnung von Geschäften. Wir klammern uns nicht an den Sonntagsschutz wie ein betrunkener an die Laterne. Aber wir denken auch nicht daran, diese Laterne auszulöschen. Sie leuchtet uns den Weg. Ohne das Licht, dass der Sonntag uns spendet, tappen wir werktags im Dunkeln.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=2971
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