Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Der Leib ist eine "irdische Hütte", schreibt der Apostel Paulus in der Bibel. Für einige Jahrzehnte eine brauchbare Behausung, aber nicht für die Ewigkeit gebaut. Trotzdem tut es weh zu sehen und mitzuerleben, wie jemand geistig und körperlich "abbaut"- gerade dann, wenn man den anderen als kerngesund gekannt hat und geistig überlegen.
Der große Philosoph Immanuel Kant war lange Jahre stolz darauf, dass ihn nicht einmal ein Schnupfen plagte. Dann aber wurde er alt. Und die letzten Tage dieses großen Denkers sahen aus wie die von vielen anderen alten Menschen.
Zuerst wurde der Philosoph vergesslich, dann kamen Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit hinzu. Alles was er tat, ging nur noch langsam und mit offensichtlicher Mühe, sogar das Lesen. Und alles, was ihn besondere körperliche Anstrengungen kostete, erschöpfte ihn völlig. Seine Füße versagten ihm den Dienst; er stürzte ständig. Oft war er so müde, dass er am helllichten Tag in seinem Sessel einschlief. Zwei Jahre vor seinem Tod 1805 konnte er nicht einmal mehr seinen Namen schreiben.
Während seiner letzten zwei Wochen aber tat er, was uns bei alten Menschen oft irritiert. Der große Philosoph beschäftigte sich nur noch damit, zwanzig Mal pro Minute Halstuch und Gürtel auf und zu zuknöpfen. Er schwieg oder plapperte vor sich hin wie ein Kind. Eine seiner letzten Aufzeichnungen bei klarem Verstand lautete: "Jetzt keine Kapitulation vor den Schrecken der Dunkelheit". Er spürte, dass er selbst an eine Grenze gekommen war. Dass nun die dunkelste Zeit seines Lebens begann, und das Licht der Vernunft ihm keinen Ausweg mehr leuchtete. Dass all dies, was ihm mit dem Altwerden widerfuhr, unbekannt war und mehr noch, dass er sich selbst unbekannt wurde. Er sprach sich selbst noch einmal Mut zu, auch das noch durchzuhalten. In der Hoffnung, dass nach den Schrecken der Dunkelheit noch einmal eine neue Zeit anbricht. Seine letzten Worte waren: "Es ist gut".

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