Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Auf meinem Schreibtisch liegt eine Postkarte. Darauf: Ein kleiner, pausbäckiger Junge in Lederhose, ein kleines Mädchen mit blonden Locken, das ein bisschen so aussieht wie Rotkäppchen, mit einem Weidenkorb am Arm und einer blauen Schürze über dem Dirndl. Beide laufen barfuss und allein durch eine düstere Berglandschaft. Gerade überqueren sie einen wilden Bach auf einer reichlich ramponierten Holzbrücke.
Man müsste sich ernstlich Sorgen um die beiden Kinder machen. Wenn, ja, wenn da nicht der große Schutzengel wäre: Blond gelockt, in weißem, wallendem Gewand. Mit ausgebreiteten Flügeln, rosigen Wangen, einem Lichtlein über dem Haupt und segnenden Händen schwebt er neben den Kindern, die ihn gar nicht bemerken.
„Schutzengel“ heißt dieses Bild. Gemalt wurde es um 1910 und es hing in vielen Kinderzimmern. Das Ganze ist, drastisch gesagt: ein mächtiger Kitsch.
Aber was ist eigentlich Kitsch? Das Wort „Kitsch“ kam auf so um 1880 in München. Mit Kitsch bezeichnete man damals Bilder, die ruckzuck fertig waren und von geschäftstüchtigen Malern an Touristen verkauft wurden. Seitdem nennen wir etwas „kitschig“, das uns gleichzeitig rührt, das zumindest darauf spekuliert, unser Herz zu erweichen. Aber das doch irgendwie ein wenig zu leicht eingeht. Aber in geringen Dosen ist Kitsch durchaus bekömmlich. Denn der Kitsch schenkt auch etwas, was nicht mit Geld zu kaufen ist. Ein bisschen Wärme, und das Gefühl von Geborgenheit.
Als Stadtkind fand ich das Bild auf der Engelpostkarte poetisch: die schroffen Felsen, der dunkle Tannenwald. Und ich fand es tröstlich. Denn niemals hätte ich mich über so eine kaputte Brücke zu gehen getraut. Aber so, in Engelbegleitung, hätte ich es mir doch noch überlegt. Auch der Kitsch ist Ausdruck für Glaube, Liebe, Hoffnung und Schönheit. Und darum bleibt meine schöne, kitschige Schutzengelpostkarte immer in Sichtweite.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=2967
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