SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

03OKT2019
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„Ihr seid still und sagt kein Wort.“ So streng hatte ich meine Eltern noch nie erlebt. Und kein Wort sagen, das kam in unserer siebenköpfigen Familie schon mal gar nicht vor. Sonst hatte immer irgendwer von uns eine blöde Bemerkung in petto. Aber jetzt sollten wir schweigen. Denn der Satz „Ihr seid still und sagt kein Wort“ fällt kurz bevor wir Ende der 70er Jahre über die Grenze fahren. Die deutsch-deutsche Grenze. Unsere Pfarrgemeinde hatte eine Partnergemeinde in Dresden und dahin waren wir unterwegs. Auch darüber durften wir nicht sprechen. Am besten sollten wir gar nichts sagen. Und so duckten wir uns verängstigt und still in unsere Autositze, hofften, dass uns die Grenzpolizisten schnell durchließen. Ich erinnere mich daran, wie wir langsam durch die Grenzanlagen fuhren und in Sichtweite eine Familie ihr gesamtes Gepäck ausladen musste. Koffer für Koffer wurden geöffnet und durchsucht. Wir waren still. Und kamen ungeschoren davon.

Schweigen, still sein, nichts sagen, das ist eine intensive Erinnerung, die ich an die Teilung Deutschlands in Ost und West habe. Und obwohl der Fall der Mauer heute dreißig Jahre zurückliegt, habe ich immer noch diese Szene an der Grenze vor Augen. Umso wunderbarer erscheint mir heute, dass ich gar nicht mehr merke, wenn ich über die alte deutsch-deutsche Grenze fahre. Umso wunderbarer, dass etwa für meine Kinder die deutsche Teilung tatsächlich nur noch Geschichte ist. Ohne jede Erinnerung. Sie kennen gar nichts anderes, als die deutsche Einheit.

Heute dürfen wir zum Glück reden über das, was trotz der deutschen Einheit noch nicht gelungen ist. Was zwischen Ost und West noch schief liegt: Ungleiche Löhne, der Eindruck, dass manche Regionen abgehängt sind.

Reden zu dürfen, das erlebe ich immer wieder, ist ein Privileg. Und auch ein Kennzeichen christlicher Spiritualität. Es waren Christinnen und Christen, die in Kirchen die Einheit Deutschlands herbeidiskutierten und herbeibeteten. Es ist der Gott der Bibel, der die Menschen auffordert, zu sprechen. Mose etwa. Der soll sein Volk in die Freiheit führen. Aber Mose hat Zweifel. Sein Bruder Aron kann doch viel besser sprechen. Der soll die Stimme Gottes sein. Aber Gott glaubt an Mose. Gibt ihm eine Stimme, die jeder hören kann. Und da sind die Psalmbeter in der Bibel. Poeten, die immer wieder sagen: Hörst du mich, Gott? Ich erhebe meine Stimme? Ich klage all das an, was ungerecht und unfriedlich ist. Still sein, den Mund halten, verschweigen was ist, das alles ist mit dem christlichen Glauben unvereinbar.

Umso schlimmer finde ich, dass heute die Freiheit der Rede scheinbar ins Unendliche ausgedehnt wird. Da wird im Internet auf unflätige Art und Weise über Menschen gesprochen, dass es mich graust. Beleidigungen, Hasskommentare, Drohungen, fast alles scheint durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Ich bin froh, dass in unserem vereinten Land frei gesprochen werden darf. Aber ich halte es für falsch, dass diese freie Rede oftmals keinen Respekt und keine Achtung kennt. Andere zu beleidigen, sie herabzuwürdigen, das hat für mich nichts mit Freiheit zu tun.

Nicht schweigen zu müssen, sondern reden zu dürfen, das ist also ein zweischneidiges Schwert. Frei zu sprechen, das kann mich frei machen, es kann aber anderen die Freiheit nehme. Und so werde ich in die Verantwortung genommen. In die Verantwortung, dass ich überlegen muss, wie ich etwas sage. Dass ich berücksichtigen muss, dass sich der andere vielleicht verletzt fühlt durch das, was ich sage.

Die deutsche Nationalhymne fängt mit einem prägnanten Dreiklang an: „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Das ist der Grundakkord der deutschen Einheit. Ihr Sound, der sagt: Freiheit ist nicht ohne Recht und Zusammenhalt denkbar. Die Freiheit zu sprechen ist also auch mit der Gerechtigkeit eng verbunden. Es gibt also mehr, als nur den Gegensatz zwischen Schweigen und Sprechen. Es kommt darauf an, gerecht zu sprechen, so dass Freiheit wachsen und blühen kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=29524
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