SWR2 Wort zum Tag

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30SEP2019
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Es ist ziemlich genau 40 Jahre her, da erlebte die Stadt Mainz ihr blaues Wunder. Da wurden in der Kirche St. Stephan zwei riesige Glasfenster des Künstler Marc Chagall (1887-1985) eingebaut. Ein Jahr zuvor war das erste der Chagall-Fenster geliefert worden. Da war der Künstler schon über 80 Jahre alt und bis zu seinem Tod stellte er noch sechs weitere Fenster für die Mainzer Kirche fertig. Heute kommen Hunderttausende, um das blaue Wunder zu erleben. Denn die Fenster Chagalls tauchen die Kirche in ein tiefes Blau. In unzählige Blautöne. Und zeigen dazwischen berührende Darstellungen biblischer Szenen. Chagall präsentiert vor blauem Hintergrund eine Bilderbibel aus Glas. Hier finden sich Adam und Eva, David und Batseba oder auch Maria und Jesus. Und immer wieder der Regenbogen. In den Fenstern berühren sich so Himmel und Erde, erzählen von Menschen und Gott.

Kirchenfenster gelten seit der Gotik als die Bibel der Armen. Denn in gotischen Kirchen gibt es praktisch keine Wände mehr, an denen Gemälde aufgehängt werden können. Dafür aber kennt die Gotik riesige Fensterflächen. Ein idealer Ort, um die wichtigsten Szenen der Bibel in ein himmlisches Licht zu tauchen. Um sie von der Sonne beleuchten zu lassen. Um die Geschichte Gottes und der Menschen in Sonnenglanz zu tauchen.

In St. Stephan kann ich das erleben. Wenn ich ab und zu die Kirche besuche, dann summe ich oft ein altes Kirchenlied. Da heißt es: „Dein Lob, Herr, ruft der Himmel aus, das blaue, lichterfüllte Haus (…).“ Doch die Fenster sind nicht nur ein gläsernes Lob Gottes. Sie erzählen auch davon, dass Menschen zu Göttlichem imstande sind. Marc Chagall war Jude. Deutschland wollte er nach dem zweiten Weltkrieg nie mehr besuchen. Doch der Mainzer Priester Klaus Mayer überzeugte ihn, dass seine Fenster in St. Stephan genau richtig sind. Deshalb lassen sich die Mainzer Kirchenfenster auch als Zeugnisse der Versöhnung und des Friedens deuten. Sie überspringen die Grenzen von Völkern und Religionen, lassen Leid und Hass hinter sich. Sie werfen ein neues Licht auf das Gute, das Menschen möglich machen können. Das ist wahrscheinlich das eigentliche Wunder, das blaue Wunder von Mainz.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=29521
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