SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

03OKT2019
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Heute ist unser Nationalfeiertag. Aber haben wir tatsächlich Grund zum Feiern: den Tag der Deutschen Einheit, wie er offiziell heißt? Mir scheint, 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands gibt es neue unsichtbare Mauern in unserem Land. Sie bestehen nicht mehr aus Stacheldraht und Schlagbäumen. Die sind tatsächlich verschwunden, was ein großes Glück ist und natürlich auch ein Grund, sich an den Mut von damals zu erinnern und dankbar zu sein. Aber in den Köpfen und Herzen von vielen Menschen in unserem Land, da wachsen Ärger und Unmut und Angst.

Viele unserer Landsleute in den ländlichen Regionen der Bundesländer im Osten fühlen sich abgehängt. Sie sagen das auch: „Die Politiker haben uns vergessen. Die sind ja mit den Flüchtlingen beschäftigt. Wir sind denen egal.“ Mag sein, dass da was dran ist, aber so pauschal stimmt es nicht. Durchs soziale Netz fällt bei uns niemand so schnell. Aber das Gefühl bleibt trotzdem: „Wir sind arm dran!“ Tatsächlich ist die Zahl derer gestiegen, die in Deutschland an der Grenze zur Armut leben. Inzwischen gehen schon viele Kinder zu den Tafeln, um sich mit Essen zu versorgen. Das sollte in unserem reichen Land nicht sein: dass die Schere immer weiter auseinandergeht zwischen denen, die wohlhabend sind und denen, die sich um die normalen Bedürfnisse sorgen müssen. Noch etwas beobachte ich, und auch das wird mehr. Die vage Angst, dass Deutschland einmal nicht mehr so sein wird, wie es gerne vorgibt zu sein: ein sauberes Land, in dem Recht und Ordnung herrschen. Menschen, die fest im Sattel sitzen, einen Beruf haben und einen Namen, die fest integriert sind in die Gesellschaft sagen mir: „Ich trau mich nicht allein auf den Bahnhof. Abends fahre ich nicht mehr im Zug. Ich habe außerdem das Gefühl, ständig betrogen zu werden - um mein Geld, um meine Rechte als Deutscher.“

Es fällt mir schwer einzuschätzen, welche Ursache diese Unzufriedenheit hat. Die Angst, nicht beachtet, ja, vergessen zu werden, muss irgendwo herkommen. Was ich aber weiß: Diese Angst, zu kurz zu kommen, hetzt die einen gegen die anderen auf. Und das ist für das Zusammenleben schlecht. Es gefährdet die Einheit unseres Landes. Die wichtig ist, damit wir einander nicht zu Feinden werden. Denn das führt immer ins Unglück, wie wir an unserer Geschichte und vielen Orten unserer Welt sehen.

Heute ist der Tag der Deutschen Einheit. Ich glaube, dass jeder von uns etwas dafür tun kann. Nicht neidisch auf den anderen zu schauen. Kritik ist immer erlaubt und wichtig. Gerade auch an den Politikern. Aber bitte so, dass die Menschlichkeit dabei nicht unter die Räder kommt.

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