SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

01OKT2019
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Vor kurzem hatte ich im Zug ein Schlüsselerlebnis. Der Zug hatte schon einige Minuten Verspätung. Das führt bei mir immer zu einer gewissen Nervosität. Zumal wenn ich einen Anschlusszug erreichen muss oder mit jemanden zu einer vereinbarten Zeit verabredet bin. Die Frau mir gegenüber im Abteil hatte ihrem „Termin“ bereits mitgeteilt, dass sie sich verspäten würde. Und dann das: Da blockiert bei einem Halt doch tatsächlich ein Mann die Weiterfahrt, indem er verhindert, dass die Wagentür sich schließt. Einmal, zweimal, dreimal. Dann kommt ein Nachzügler, auf den er offensichtlich gewartet hat. Der aber bleibt in der sich wiederholt schließenden Tür stecken, so dass diese gar nicht mehr zugeht. Es piepst und piepst. Und die Nervosität der anderen Reisenden steigt. Schließlich geht’s weiter. Ich ärgere mich und bin nicht allein damit.

Was für ein Egoismus, denke ich mir. Ein ganzer Zug voller Menschen muss warten, weil einer zu spät kommt. Keine Frage: Ich freue mich auch, wenn der Busfahrer wartet, um mich mitzunehmen. Aber ich weiß, dass ich das nicht erzwingen kann. Wer das tut, so wie neulich im Zug, benimmt sich anderen gegenüber rücksichtslos. Das liegt daran, dass er nicht über seinen eigenen Horizont hinausdenkt, dass er sich zum Maß der Dinge macht. Was wenn deshalb nun jemand seinen Zug verpasst hat? Für den kommt der ganze Tagesplan durcheinander. Was wenn deshalb jemand ein wichtiges Treffen versäumt? Was wenn das gar die komplexe Planung auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof tangiert? Die Abläufe dort sind genau getaktet, der Verkehr läuft nur dann reibungslos, wenn alle pünktlich sind.

Kleine Rücksichtslosigkeiten können weitreichende Konsequenzen haben. Ich unterstelle dem Mann, dass er das nicht bedacht hat, dass er gar nicht egoistisch sein wollte, sondern seinem Kollegen helfen. Aber es gibt eben meistens einen größeren Zusammenhang. Und mir fällt auf, dass der gerne übersehen wird. Manchmal auch mit Absicht ignoriert wird. Ich beobachte, dass das zunimmt, dass Egoismus im Alltag salonfähig geworden ist. Radfahrer, die wie irre auf Waldwegen an mir vorbeirasen. Eltern, die ihre Kinder bis vor die Schultüre chauffieren. Politiker, die den Klimawandel leugnen. Menschen, die wegen einer harmlosen Krankheit die Notaufnahme in der Klinik blockieren.

Die Wurzel von vielem, was schlecht läuft unter Menschen, ist der Egoismus. Wer dem etwas entgegenhalten will, dem empfehle ich die Goldene Regel aus der Bibel: Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen[1]. Es lohnt sich, sie auswendig zu können und sie regelmäßig anzuwenden: im Zug und andernorts.



[1] Matthäus 7,12

https://www.kirche-im-swr.de/?m=29480
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