SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Vor zwei Wochen haben wir noch einmal angestoßen: eine alte Dame, 93 Jahre mit ihrem Kamillentee in der Plastik-Schnabeltasse und ich mit einem Glas Saft. Auf das Leben, und wie schön es war, als wir es noch mit Sektgläsern und Prosecco taten. „Ja, das waren schöne Zeiten“, meinte sie, schaute still vor sich hin und versank wieder in ihrer eigenen Welt, zu der wir keinen Zugang haben.  Eine Welt, in der es kaum noch Worte gibt, nur noch einzelne Laute. Das A zum Beispiel. Eine halbe Stunde sagt sie ununterbrochen: A in allen Tonlagen. Schwer zu ertragen für alle, die sie früher kannten, als sie mit ihrer schönen Stimme gesungen und erzählt hat. Und immer wieder lässt sie die schon längst Verstorbenen freundlich grüßen, wie wenn sie noch am Leben wären. Manchmal schaut sie fasziniert auf die Birke vor ihrem Fenster und erklärt, da säße doch ein Braunbär auf den Zweigen, ob wir den nicht auch sähen.

Ja, das waren schöne Zeiten, als sie nicht nur im Rollstuhl sitzen oder im Bett liegen konnte. Immer darauf angewiesen, dass sie morgens an- und abends ausgezogen wird. Dass das immer wechselnde Pflegepersonal ihr die Tabletten gibt, sie kämmt, ihr die Nägel schneidet und sie von ihren Windeln befreit. Für sie sind schon die Tage gekommen, von denen der Prediger Salomon in der Bibel spricht:

»Denk an deinen Schöpfer, solange du noch jung bist, ehe die schlechten Tage kommen und die Jahre, die dir nicht gefallen werden. Dann verdunkeln sich dir Sonne, Mond und Sterne und nach jedem Regen kommen wieder neue Wolken.

Wo Salomon recht hat, hat er recht. Er beschönigt nichts. Auch die Zeit geht vorbei, wo sich das Altsein im Sommergarten bei einem Prosecco noch genießen lässt. Darum rät der Prediger Salomon:

„Genieße dein Leben, bevor es zu Ende geht, wie eine silberne Schnur zerreißt oder eine goldene Schale zerbricht, wie ein Krug an der Quelle in Scherben geht oder das Schöpfrad zerbrochen in den Brunnen stürzt. Dann kehrt der Leib zur Erde zurück, aus der er entstanden ist, und der Lebensgeist geht zu Gott, der ihn gegeben hat.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=29306
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