SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Meine Freundin war jetzt im August im Urlaub auf einer ostfriesischen Insel, auf Spiekeroog. Dort hat sie mit ihrem Mann eine Kirche besucht und sich umgeschaut. Der Altar hat ihr gefallen. Eine Christusfigur in der Mitte, nebendran zehn Jünger in langen Gewändern. Fünf links und fünf rechts. Das hat sie dann ins Grübeln gebracht. Wieso jetzt zehn Jünger? Es sind doch zwölf. Sie hat weiter gegrübelt. Schließlich hat sie den Pfarrer gefragt. Der war aber vom Festland und nur eine Urlaubsvertretung. Auch er war ratlos.

Die alte Küsterin klärt schließlich die Anwesenden auf: Das sind nicht die zehn Jünger, sondern die zehn Jungfrauen, von denen in der Bibel die Rede ist. Da sind meiner Freundin die Augen aufgegangen. Als sie noch einmal hingeschaut hat, hat sie festgestellt, dass auf dem Altarbild ganz klar keine Männer, sondern Frauen zu sehen waren. Sie hatte gesehen, was sie erwartet hatte, nicht, was wirklich zu sehen war.

Ich kenne das von mir. Manchmal sehe auch ich nur das, was ich von vorn herein im Kopf hatte: Ich schaue gar nicht richtig hin. Ich bin gar nicht offen für das, was ist. Und ist meine Laune schlecht, sehe ich sowieso nur das, was mir nicht passt. Jede Kleinigkeit. Dann fange ich an, zu meckern. Die Kinder sollen ihr Zimmer aufräumen, die Konfirmanden endlich ruhig sein. Ganz anders ist es, wenn es mir gut geht. Da sehe ich die Welt freundlicher. Ich bin offener, interessierter, viel neugieriger. „Was hast du eben gemeint?“ frage ich dann, anstatt zu meckern. Ich toleriere viel mehr. Irgendwann ist mir das bewusst geworden, dass das so ist. Dass ich das sehe und wahrnehme, was in mir ist und eben nicht, was wirklich ist. So wie meine Freundin in der Inselkirche. Ich finde das schade. Seitdem versuche ich, wenn ich das merke, mir eine kleine Pause zu gönnen. Ich trete einen Schritt zurück und sehe dann viel besser als vorher, was gerade ist: Mich und die anderen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=29269
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