SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Ich habe eine Wohnung zu vermieten. Das ist ein großes Glück in dieser Zeit, dessen bin ich mir bewusst; zumal im Großraum Stuttgart. „Wir würden uns sehr freuen, wenn sie uns wenigstens einmal kennenlernen möchten. Weil wir leider nie so richtig Glück hatten.“ So beginnt das Schreiben einer Familie auf meine Anzeige. Eine Familie mit drei Kindern, eines von ihnen leicht behindert, das vierte Kind unterwegs. Auf meine Anzeige hin hatten sich zwei Dutzend Interessenten gemeldet – und das innerhalb von nur drei Tagen!

Junge Paare haben mir geschrieben, Rentnerehepaare und Familien mit Kindern. Sie haben mir, einer Fremden, aus ihrem Leben erzählt, teils verzweifelt, teils bittend, teils rechtfertigend und immer mit der Hoffnung, den Zuschlag für diese Wohnung zu bekommen. Einem Rentnerehepaar mit studierender Tochter wurde nach 25 Jahren Miete gekündigt. Das Haus einer Familie mit zwei Kindern und Hund wurde verkauft – sie wollen unter keinen Umständen weg aus der Stadt: Die Kinder gehen dort zu Schule, die Eltern sind im Verein engagiert, sie haben Angst, alles zu verlieren.  Ein Paar mit schon erwachsenen Kindern muss Norddeutschland verlassen, der Mann hat nach der Insolvenz seiner Firma im Süden wieder Arbeit gefunden. Es fehlt nur eine Wohnung. Jedem von ihnen hätte ich die Wohnung gerne vermietet. Ich selbst bin dabei in eine Situation gekommen, die mir neu war: Ich hatte die Entscheidungsmacht, andere waren abhängig von mir. Doch diese Macht war verbunden mit einer großen Verantwortung.

Zwei Tage und Nächte habe ich gegrübelt und abgewogen: Wer passt in die Hausgemeinschaft? Wieviel finanzielles Risiko kann ich in Kauf nehmen? Wer bekommt auf dem Wohnungsmarkt vielleicht noch eine weitere Chance? Und bei wem fällt es mir leichter, abzusagen?

Ich habe mich für eine Familie mit drei kleinen Kindern entschieden. Sie kommen aus Osteuropa, sind seit kurzem in Deutschland. Die Eltern sprechen wenig Deutsch, die Kinder schon richtig gut. Der Vater hat einen Studienabschluss und einen unbefristeten Arbeitsvertrag.

In Deutschland hat die Weimarer Verfassung vor genau 100 Jahren erstmals das staatliche Ziel formuliert „jedem Deutschen eine gesunde Wohnung“ zu sichern. Angemessener und bezahlbarer Wohnraum gehört zu den Menschenrechten. Eine Regierung muss sich daran messen lassen, ob es ihr gelingt, diesen Wohnraum zu schaffen.

Schweren Herzens habe ich mich gegen die Familie mit den mittlerweile vier Kindern entschieden. Ich hoffe sehr, dass sie bald Glück haben und es jemanden gibt, der ihnen eine passende Wohnung zur Verfügung stellen kann.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=29189
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