SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

14JUL2019
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Endlich ein freier Vormittag ohne Termine, - dachte ich vor Tagen. Alles war geplant. Den Schreibtisch wollte ich aufräumen. Mails beantworten. Rechnungen bezahlen. Eine Predigt vorbereiten. Doch es kam alles ganz anders. Ein junger Mann wollte mit mir sprechen. Ich sei doch Seelsorger - meinte er.

Seine Geschichte hatte er schnell erzählt. Auf der Rückfahrt vom Wochenendausflug wurde er von einem Auto mit überhöhter Geschwindigkeit überholt. Minuten später war er mit einem Unfall konfrontiert. Hinter einer Kurve war der PKW, der ihn überholt hatte,  gegen einen Baum geprallt.

Er reagierte blitzschnell. Alarmierte die Polizei und leistete erste Hilfe. Gott sei Dank hatte er eine Ausbildung bei der Feuerwehr. Der Fahrer, vielleicht gerade mal 18,  lag blutüberströmt im Auto und starb noch vor Eintreffen der Rettungskräfte.

Zwei Tage später jetzt verfolgen ihn die schrecklichen Bilder vom Unfallort erzählt er mir. Die Augen des Sterbenden. Seine letzten Worte. Die Gerüche. Ständig will er sich waschen, weil er noch immer das Blut auf seinem Körper spürt. 

Warum hat ausgerechnet er das erleben müssen ? Wie konnte es sein, dass der Mann, den er nicht einmal mit Namen kannte, buchstäblich in seinen Armen sterben musste.

Hatte er vielleicht eine Freundin ? Oder vielleicht schon Kinder ?

Fragen über Fragen die ihn verfolgen bis in die schlaflosen Nächte hinein.

Ganz nahe war er dem sterbenden Unbekannten geworden. Und ich ihm beim Zuhören.

Ist er mir damit an diesem Morgen zum Nächsten geworden?

Als Jesus von einem frommen Juden einmal mit der Frage konfrontiert wird, wer denn eigentlich dieser Nächste sei, ist er erstaunt. Der Mann, der doch als Jude die Schriften bestens kennt, müsste es doch wissen. Und so gibt er die Frage zurück. Sag mir. Was steht zu dieser Frage in der heiligen Schrift ? Seine Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele und deinen Nächsten wie dich selbst.

Doch was den Schriftgelehrten beschäftigt ist eine ganz andere Frage: Wer aber genau ist mein Nächster ?  Mein Nächster, dass kann doch unmöglich jeder und jede sein, sonst hieße es ja nicht mein Nächster. Jesus sag es mir, wer zum Kreis meiner Nächsten gehört.

M u s i k

 

Jesus erzählt dazu wie so oft eine Geschichte. Es ist eine Allerweltsgeschichte, weil erzählt wird, was jeden Tag in der Zeitung steht:

Ein Mann ist unterwegs von Jerusalem nach Jericho. Er wird überfallen, verprügelt und fast Tod am Straßenrand liegen gelassen. Zuerst kommt ein Priester vorbei und wenig später ein Diener am Jerusalemer Tempel. Die haben es beide eilig und gehen weiter. Eigentlich wären sie verpflichtet zu helfen. Doch ihr Dienst am Tempel ist ihnen wichtiger. Dort gibt es heilige Regeln und Ordnungen. Die sind strikt einzuhalten und durch Nichts zu entschuldigen.  Wer ist mein Nächster ? Heute. Ist es der junge Mann? Jetzt ganz konkret bei mir. Der mir gegenüber sitzt und mir seine Geschichte erzählt. Der nur möchte, dass ich ihm zuhöre und ihm ein wenig nahe bin. Und eben nicht an meinen Schreibtisch denke.

In der Geschichte von Jesus kommt ein Dritter am Überfallenen vorbei. Es ist ein Samariter. Der ist für die Juden ein Ausländer, den es zu verachten gilt. Er befolgt nicht die heiligen Schriften und betet nicht im Tempel. Ein Heide ist es. Aber nur er, so erzählt Jesus, folgt seinem Gewissen und hilft einfach. Er versorgt die Wunden des Überfallenen und bringt ihn in Sicherheit.

Wer ist mein Nächster ?

Mit der Geschichte von Jesus ist ein grundlegender Wechsel der Perspektive angesagt. Die eigentliche Frage ist eben nicht: Wer ist mein Nächster? Ganz anders müssen wir fragen: Wem kann ich zum Nächsten werden?

Dann gilt. Nicht die räumliche und auch nicht die emotionale Nähe macht einen Menschen zu meinem Nächsten. Einziges Kriterium ist die Not eines Menschen, die mich nicht unberührt lässt. Die Straße zwischen Jerusalem und Jericho die gibt es überall. Auch heute. Unzählige Frauen und Männer und Kinder sind auf ihr unterwegs. Opfer von Unfällen und Gewalt. Erkrankte. Traurige. Aus dem Blick Geratene. Traumatisierte. Auf der Flucht. Vor Hunger und Durst. Vor Odachlosigkeit. Krieg und Terror.

„Am ärmsten bleibt, der nur sich selber der Nächste ist“, schreibt die Lyrikerin Christine Busta, „am reichsten, wer sich vom Fernsten noch fordern lässt !“ Vom Fernsten sich fordern lassen. Wir können das. Zuhören und trösten. Stützen und aufrichten. Umarmen und Tränen zulassen. Das alleine zählt dann.

Ich habe es an diesem Vormittag wieder einmal einüben müssen. Und auch der Mann der mit mir reden wollte. Bei der tragischen Begleitung eines unbekannten Sterbenden. Fern waren sie sich und doch so nahe

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