SWR2 Wort zum Tag

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Als Kind hatte ich manchmal eine seltsame Angst: die Angst, dass meine Eltern nicht wiederkämen. Dabei waren sie nur auf ihrem Sonntagsspaziergang rund ums Dorf. Und ich konnte mich wirklich auf sie verlassen. Aber immer wieder lief ich voller Angst zur Tür, schaute nach, ob sie endlich kämen. Voller Angst, für immer verlassen zu sein – und voller Glück und Erleichterung, wenn ich ihnen dann entgegenlaufen konnte und sie mich in den Arm nahmen. 

Ich bin mir nicht sicher, ob ich das meinen Eltern jemals erzählt habe. Aber ich war beruhigt, als ich Jahre später gelesen habe, dass es dem großen Philosophen Arthur Schopenhauer auch nicht anders gegangen war.

„Schon als sechsjähriges Kind“, lesen wir bei Schopenhauer, „fanden mich die vom Spaziergang heimkehrenden Eltern eines Abends in der vollsten Verzweiflung, weil ich mich plötzlich von ihnen für immer verlassen wähnte.“ Genau das war mein Gefühl als Kind damals: ich könnte für immer verlassen sein. Ein schrecklicher Gedanke, dass dann, niemand außer einem selber, noch von einem weiß.

Etwas von dieser Angst kommt im Alter wieder: wenn nacheinander Menschen sterben, die einem nahe sind, erst der Vater, dann die Mutter, dann ein Freund, dann noch einer. Und man kann es nicht beenden, dieses Verlassenwerden von Menschen, die man über Jahrzehnte gekannt hat. "Die Einsamkeit in der Lebensphase über 60 erhöht die Sterblichkeit so sehr wie starkes Rauchen", heißt es. Also muss man etwas dagegen tun. Als Rezept werden genannt: Haustiere und Vereine, Stammtische und Ehrenamt – es gibt viele Wege aus der Einsamkeit. In England gibt es sogar ein Ministerium gegen Einsamkeit.

Aber weder dem kleinen Schopenhauer noch mir hätte ein munter zwitschernder Kanarienvogel oder ein Rauhaardackel genützt, als wir uns als Kinder so einsam, gottverlassen und mutterseelenallein  gefühlt haben.  

Schopenhauer schlug als Erwachsener die Flucht nach vorne ein: Lieben, was man fürchtet. In der Einsamkeit „sind wir uns selbst zurückgegeben“.  „Einsamkeit,“ so erkannte er, ist eine Quelle des Glücks und der Gemütsruhe, sie ertragen zu lernen sollte ein Hauptstudium der Jugend sein.“

Die Einsamkeit aushalten und sie schätzen ist das eine. Das andere aber, glaube ich, bleibt dennoch: in der Einsamkeit werden wir zu Kindern, die  in den Arm genommen werden wollen. und spüren möchten: Ich bin nicht verlassen. Und, wie es in einem biblischen Psalm heißt: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28930
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