SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

„Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein.“ Jesus spricht diesen Satz zu einer Gruppe von Menschen. Sie haben sich um eine Frau versammelt – in der Bibel wird sie lediglich „die Ehebrecherin“ genannt. Im Religionsbuch meiner Schüler*innen heißt sie Lea. Lea hat offenbar ihren Mann betrogen. Und deshalb fordert die Menschentraube um sie herum, dass sie gesteinigt wird. Das war damals so üblich: Dass Menschen wegen eines Gesetzesbruchs hingerichtet werden.  Doch wie so oft ist es Jesus relativ egal, was damals üblich oder unüblich war. Er stellt sich zu Lea und fordert alle Menschen um sie herum auf: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein. Und tatsächlich: Die Menschen lassen ihre Steine fallen und gehen.

Wie genial! Jesus diskutiert und redet nicht lang herum, sondern packt die Menschen dort, wo es sie betrifft: Nämlich dass sie gar nicht so anders sind als Lea; vielleicht haben sie nicht ihren Mann oder ihre Frau betrogen, aber auch sie haben schon Fehler gemacht. Warum also haben diese Menschen das Recht, die Steinigung der Frau zu fordern? Warum haben sie das Recht, sie zu verurteilen?

Meine Schüler*innen fragen sich das auch.

Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein. Obwohl dieser Satz fast zweitausend Jahre alt ist, bringt er heute noch junge Menschen zum Nachdenken. Auch meine Schüler*innen haben schon Situationen wie die von Lea erlebt: Ein uncooler Spruch oder eine verhauene Klassenarbeit reichen aus, um in der Klasse ausgegrenzt zu werden. Und auch die zerbrochene Ehe beschäftigt sie – Geschiedene und deren Kinder werden auch heute noch öffentlich in Frage gestellt.

Meine Schüler*innen bekommen die Aufgabe, die Geschichte der Ehebrecherin zu Ende zu schreiben. Eine Schülerin schreibt von zwei Männern, die auf Lea zukommen, sie fragen, wie es ihr geht und ob sie ihr helfen können. Ein Schüler schreibt, dass jemand Lea anbietet, ein gemeinsames Gespräch mit ihr und ihrem Mann zu führen. Meinen Schüler*innen ist eines sehr wichtig: Dass die Menschen auf Lea zugehen und ihr zuhören. Dass sie miteinander sprechen, ohne zu verurteilen, und versuchen, sie zu verstehen. Ich finde, sie haben wirklich tolle Ideen und zeigen damit, dass sie ein gutes Gefühl dafür haben, wie wir unser Zusammenleben besser gestalten können. Und sie haben ein gutes Gefühl für sich selbst: Sie sagen, dass auch sie schon einiges falsch gemacht haben. Das ist eine ganz schön unbequeme Wahrheit. Aber das Schöne ist, dass sich Jesus genau zu diesen Menschen, zu Lea, zu mir und zu ihnen stellt. Denn wenn Jesus sagt „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein“ – setzt er ein klares Zeichen dafür, dass jeder, ja wirklich jeder einzelne Mensch gleichermaßen würde- und wertvoll ist. Ausnahmslos!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28828
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