SWR3 Gedanken

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05JUN2019
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Stellen Sie sich vor: Die Kanzlerin betritt den Plenarsaal, schreitet zum Mikrofon. Und dann geht es wie ein Lauffeuer durch das ganze deutsche Land. Die Regierung ruft ein Jubeljahr aus. Ein Jahr, in dem jedem die Schulden erlassen werden. Damit gescheiterte Existenzen einen Neuanfang wagen können. Damit die Verteilung der Güter anders stattfinden kann.

Wenn die Kanzlerin so etwas täte, hätte sie nicht den Verstand verloren, sondern würde sich ein Beispiel am alten Testament nehmen. Das berichtet nämlich vom so genannten „Jubeljahr“, das es im alten Israel alle fünfzig Jahre gegeben hat. Als Maßnahme für soziale Gerechtigkeit und stabile Grundversorgung für alle. Ein bisschen drastisch und politisch nicht besonders realistisch. Aber irgendwie auch bestechend.

Schon damals wusste man offenbar: keine Gesellschaft kann überleben, wenn die soziale Schere immer weiter auseinandergeht. Wenn eine Gesellschaft zerfällt in wenige Reiche und viele Arme und wenige dazwischen. Und dass eine Politik der kleinen Schritte und großen Rücksichtnahmen nicht mehr punkten kann, wenn Missstände zum Himmel stinken.

Vielleicht haben auch damals schon reiche Beduinen ihre Zelte woanders aufgeschlagen, um heimische Steuern zu sparen. Vielleicht hat auch schon damals armen Bauern der karge Sparstrumpf nicht gereicht, um das Alter gut zu überstehen. Vielleicht gab es auch schon damals ein Heer von Nomaden auf der Suche nach Lohn und Brot um jeden Preis. Und sei es die Würde.

All diesen Menschen hat man damals im alten Israel ein Jubeljahr verkündet. Alle fünfzig Jahre einen echten Einschnitt und Neufanfang. Eine Gesellschaft zurück auf Los. Wenigstens ein bisschen. Ein bisschen mehr Chancengerechtigkeit, ein bisschen mehr funktionierende Gemeinschaft. Das wäre doch was. Ein echter Grund zum Jubeln.

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