SWR4 Abendgedanken

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Heute Morgen hat Daniels Wecker um kurz nach 3:00 Uhr geklingelt. Und nicht nur seiner. Einige Tausend waren zu dieser frühen Stunde schon auf den Füßen, Kinder, Jugendliche und Erwachsene. In Weingarten, in Oberschwaben, ist heute Blutfreitag. Das heißt: mehr als 2.000 Reiter, 4.000 Musiker und 30.000 Pilger sind unterwegs. Und alles wegen eines Tropfens Blutes.

Mittendrin ist Daniel. Er war 10 Jahre alt, als ich ihn das erste Mal am Blutfreitag getroffen habe. Damals Ministrant und einer der jüngsten Blutreiter. Sein Pony Lukas hatte er am Abend zuvor gewaschen und gebürstet, zum Schlafen auf frisches Stroh gebettet. Am Morgen hat er dann die Hufe von Lukas mit Fett eingerieben, damit sie schön glänzen. Und seine Oma hat ihm mit einem sauberen Tuch noch ein letztes Mal vor dem Losreiten über die Stiefel gewischt. „Wenn er doch nur an manchen Schultagen so schnell aus dem Bett käme wie am Blutfreitag“, hat seine Mutter damals gesagt.

Seit über 900 Jahren gehört die Heilig-Blut-Reliquie dem Kloster Weingarten. Sie ist der Grund, warum die Klosterkirche überhaupt erst in dieser Dimension gebaut wurde. Sie ist wie ein Schutzwall, für einen ganz besonderen Blutstropfen: Der Legende nach soll es Blut des gekreuzigten Jesus sein, vermischt mit Erde aus Golgatha, dem Ort, an dem Jesus gestorben ist. Der Reiter, der die Heilig-Blut-Reliquie trägt, segnet auf seinem Weg Menschen, Tiere und Felder.  Reiter mit Zylinder und schwarzem Frack und Ministranten in weißen Gewändern begleiten ihn. Außerhalb der Stadt, wenn die Musikkapellen abbiegen, hört man nur noch das Hufgeklapper der über 2.000 Pferde.  Die Reiter sind versunken in Andacht und im Gebet.

Unter ihnen war heute Morgen auch Daniel.  22 Jahre ist er mittlerweile alt und hat keinen Blutritt verpasst. Warum macht er noch immer mit, bei diesem spät-mittelalterlichen katholischen Spektakel? Passt diese Tradition mit der modernen digitalen Welt, in der er lebt, überhaupt zusammen? „Das passt sogar sehr gut, vielleicht gerade wegen der Gegensätze“, sagt er. „Das Jahr über bin ich ziemlich eingespannt: als Schreiner im Betrieb der Eltern, bei den Ministranten, bei der Feuerwehr; und online sind wir so und so alle immer. Es gibt wenig Pausen.  Aber dieser Blutfreitag, das ist ein Tag an dem ich ganz bei mir sein kann.“ Er hat für Daniel inzwischen einen tieferen Sinn bekommen. „Ich bin dankbar für alles, was wir haben. Und bitte um den Segen für das, was kommt.“

Daniel würde nie auf die Idee kommen, am Freitag nach Himmelfahrt nicht in Weingarten zu sein. Nicht nur er spürt: In dieser sich rasant wandelnden Welt haben auch Tradition und Innehalten Platz - und nicht nur das, es braucht sogar beides.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28732
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