SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Ich besitze keinen Organspendeausweis. Das Thema hat mich bislang nicht sehr beschäftigt. Und um ehrlich zu sein - ich wollte mich damit auch gar nicht auseinandersetzen. Schon allein daran zu denken, dass mir mein Herz oder meine Lunge entnommen wird, war für mich, als ob ich dem Tod ein Stück weit die Tür öffnen würde. Ich habe mich dagegen gewehrt, auf mein Lebensende zu schauen.

Vor einigen Monaten habe ich dann an einem Samstag die Lokalzeitung aufgeschlagen: Zwischen den Wohnungsgesuchen und den Todesanzeigen blieb mein Blick bei einer Anzeige hängen: Sie war umrandet mit dutzenden kleinen, roten Herzen. Über dem Text stand in Großbuchstaben das Wort „DANKE“.

„DANKE – an meinen Spender, der mir – einer Fremden – vor genau zwei Jahren bei seinem Tod das Leben ermöglicht hat. Ich wünsche dir ewige Ruhe. Ein Teil von dir lebt in mir weiter. Ich denke voller Mitgefühl an deine Angehörigen und wünsche ihnen Trost. Heute feiere ich meinen zweiten Geburtstag mit der neuen Lunge. Das ist ein besonderer Moment für meine Familie, Freunde und mich. Wir sind sehr dankbar über dieses kostbare Geschenk.“

Wie alt die Verfasserin dieser Anzeige ist, weiß ich nicht. Ihre Zeilen jedenfalls haben mich sehr berührt und zum Nachdenken gebracht.  Ihre Worte lassen mich auf eine ganz neue Weise begreifen was es heißen kann, nach dem Tod weiterzuleben; was für ein Wunder es ist zu leben und Leben weiterschenken zu können. Und wie existentiell Nächstenliebe sein kann. 

Ich habe das Gespräch mit meinen Kindern gesucht, was ich bisher immer vermieden habe. Wie sie reagiert haben und wie sie dazu eingestellt sind hat mich erstaunt: Der Jüngste war traurig, wollte sich nicht vorstellen, dass er sterben könnte. Die Mittlere pragmatisch – „wenn ich eh tot bin, dann wäre es doch besser, jemand anderes hat noch was davon.“ Der Große hat kommentarlos genickt; aber alle waren sich einig: Wenn sie bei einem Todesfall entscheiden müssten, dann wären sie alle bereit, anderen ein Weiterleben zu ermöglichen.

Ich habe großen Respekt vor jedem, der einen Organspendeausweis bei sich trägt. Denn er hat ganz bewusst einen anderen, Fremden in sein Leben mithineingenommen. Noch bin ich nicht so weit. Aber ich werde intensiv über eine Entscheidung nachdenken. Der Blick von Stefanie, der Verfasserin der Anzeige mit den roten Herzen, hilft mir und macht mir noch etwas ganz anderes deutlich: sie und all die anderen haben mit dem Empfang eines Spenderorgans für zwei Leben Verantwortung übernommen: für das eigene und das fremde. Stefanie hat es in Worte gefasst: „Ich trage und spüre dich in mir.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28731
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