SWR2 Wort zum Tag

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Mein Lieblingsbuch war eine Zeit lang die Biografie der gehörlosen und blinden Helen Keller. Das Bändchen ist keine große Literatur. Aber als Jugendliche hat es mich fasziniert. Beim Wiederlesen habe ich gemerkt: Eigentlich ist diese Lebensgeschichte eine Geschichte über die Kraft der Worte und der Sprache. Und sie ist auch eine Ostergeschichte – eine Auferstehungsgeschichte:

Helen Keller wird 1880 im Süden der USA geboren. Als Kleinkind verliert sie durch eine Krankheit ihr Augenlicht und ihr Gehör. In den ersten Jahren ihres Lebens findet sie kaum eine Möglichkeit, sich mitzuteilen oder zu verstehen, was um sie herum geschieht. Je älter sie wird, desto wütender und verzweifelter ist sie darüber.

Als sie sechs Jahre alt ist, engagieren die Eltern eine Lehrerin. Sie bringt Helen bei, Wörter mit der Hand zu buchstabieren. Viele Wochen üben die beiden. Helen lernt zwar schnell, aber sie versteht nicht, zu was die Übung gut sein soll. Bis sie eines Tages im Garten spielt. Um ihr das Wort „Wasser“ zu verdeutlichen, pumpt die Lehrerin Wasser in einen Becher, den Helen in der Hand hält. Gleichzeitig buchstabiert sie ihr das Wort „Wasser“. Und da, als das Wasser über ihre Hand fließt, ist Helen wie vom Blitz getroffen. Über ihr Gesicht geht ein Leuchten. Ihr ist ein Licht aufgegangen. Sie hat verstanden, was der Sinn der Sprache ist.

Jetzt will sie alles wissen. In kürzester Zeit erschließt sich ihr die Welt. Viele Jahre später schreibt sie als junge Studentin: „Einst kannte ich den Abgrund, in dem es keine Hoffnung gab. ... Aber ein Wörtchen von den Fingern einer Anderen traf auf meine Hand, füllte die seitherige Leere aus, und mein Herz schlug höher vor Lust zu leben.“

Helen Keller hat später selbst zehn Bücher geschrieben. In Reden hat sie sich für Menschen mit Behinderungen, für Frauenrechte und soziale Gerechtigkeit eingesetzt. Die Geschichte von Helen Keller – für mich ist das eine Geschichte über die Kraft von Worten und Sprache. Und eine ganz besondere Ostergeschichte. Weil sie davon erzählt, wie einem Menschen ein neues Leben geschenkt wird.

Und ich glaube: Im Kleinen, weniger spektakulär, gibt es Auferstehungsgeschichten wie diese immer wieder, auch in meinem Leben. Wenn ein Wort, ein Satz, eine Geste mich lebendig machen. Wenn mir plötzlich ein Licht aufgeht. Solche Momente sind unverfügbar. Und sie sind wie ein Schatz, den ich aufbewahren kann.

Das Leben kann sich wieder verdüstern – auch Helen Keller hat das erlebt. Aber es kann nicht mehr ganz finster werden, sagt sie: „Die Dunkelheit kann mich nicht wieder umfangen. Ich habe die Küste erblickt und kann nun in der Hoffnung leben, das Land zu erreichen.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28539
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