SWR2 Wort zum Tag

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Heute treffe ich sie vielleicht wieder. Den Mitfahrer im Zug, der mir immer gerne erklärt, warum ich mit meinen Ansichten falsch liege. Die Frau am Bahnhof, die seit Wochen gegen politische Entscheidungen demonstriert. Vieles an ihren Positionen leuchtet mir ein. Und doch gibt es Gegenargumente, die genauso vernünftig scheinen. Diese Möglichkeit, eine Sache so oder auch anders zu sehen – manchmal verunsichert, ja überfordert mich das. Ich möchte eindeutig wissen, was richtig ist, was ich tun und wofür ich eintreten soll.

Ein kleines Büchlein hat neulich meine heimliche Sehnsucht nach Eindeutigkeit ganz ordentlich in Frage gestellt. Die „Vereindeutigung der Welt“ nennt der der Professor für Arabistik Thomas Bauer seine Schrift. Und er sieht das, was er mit Vereindeutigung umschreibt, durchaus kritisch. Die Erfahrung, einer großen Vielfalt an Positionen und Denkrichtungen ausgesetzt zu sein, täuscht. Der Autor meint, sie täuscht womöglich darüber hinweg, dass es diese Vielfalt gar nicht wirklich gibt. Sie nimmt in vielen Bereichen ab. Das gilt nicht nur für Apfelsorten oder Insekten. Sondern durchaus auch für Meinungen und individuelle Entscheidungen.

Bauer vergleicht neben Beispielen aus der Politik oder der Kunst auch die großen Religionen. Es gibt da fast überall vergleichbare Weisen, die Welt zu sehen.

Ein Satz von Nazareth kommt mir dazu in den Sinn. Dieser Satz wird in der Bibel in zwei Versionen überliefert. Einmal lautet er: „Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns!“ (Markus 9,40) Das andere Mal: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ (Matthäus 12,30) Vermutlich ist der Satz jeweils in der Formulierung überliefert worden, die Menschen in einer bestimmten Situation am meisten eingeleuchtet hat. Die eine Version finde ich großzügig, sie zieht aus ausbleibendem Widerspruch eine positive Folgerung. Die andere Version ist eher von Ängstlichkeit geprägt. Das Leben ist im Blick auf die Möglichkeit, es wahrzunehmen, deutungsoffen.

Für mich heißt das: Die Menschen, mit denen ich es zu tun habe, müssen mit mir nicht einer Meinung sein. Die Grenze ist erst da erreicht, wo andere Menschen verächtlich gemacht oder gar bedroht werden. Und der Verlust an Eindeutigkeit könnte am Ende womöglich auch ein Gewinn sein. Daran will ich denken, wenn mir heute einer dieser beiden Menschen mit ihren Botschaften wieder begegnet.

*Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt, Philipp Reclam Stuttgart 2018

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