SWR2 Wort zum Tag

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Wir Menschen brauchen Gegengeschichten (counter histories). Damit wir durchhalten können, wenn das Leben bedrängend wird. Die Bibel ist voller Gegengeschichten. Sie richten Geist und Seele auf, damit wir nicht aufgeben zu kämpfen. Ich möchte Ihnen eine davon nahebringen und zum Lesen empfehlen, die ich selbst wiederentdeckt habe: Die Geschichte von Esther. Sie steht im Alten Testament. Sie ist kurz, aber stark als Gegengeschichte.

Schon der Titel:  Das Buch trägt den Namen einer Frau. Das gibt es sonst nur noch 1-2 mal in der ganzen Bibel, je nachdem wie man den Kanon abgrenzt. Esther, eine junge jüdische Frau ist die „Heldin“. Sie rettet ihr Volk im persischen Großreich vor einem antisemitischen Pogrom.

Die biblische Wissenschaft geht heute davon aus: Es ist nicht historisch, dass Esther Frau des persischen Königs war, das Buch ist eher romanhaft. Aber Gegengeschichten sind oft fiktional: sie docken an der Wirklichkeit an, und erzählen über sie hinaus. Wissen was wirklich ist und erzählen was möglich ist. So weiß das Buch sehr genau, wie übel ein männlicher Machtapparat einer Frau mitspielen kann, wenn sie nicht nach seinen Regeln spielt.

Aber setzt dann Esther dagegen. Als Hoffnung für Frauen? Ich denke schon. Manchmal kann man sich nur zukunftsfähig verhalten,  wenn man anders und weiter sieht als das was real ist. Und Esthers Geschichte ist noch in anderer Hinsicht eine Gegengeschichte: ‚widersteht dem Antisemitismus‘ ist ihre Botschaft. Esther und ihr Volk sind davon massiv bedroht.

Es ist banal und erschreckend, wie alt dieses antisemitische Muster ist. Wie zäh seit 2200 Jahren. So alt ist das Estherbuch. Die Verfolgung wird darin politisch ganz oben ausgeheckt und in einem Dekret vollstreckt. Es liest sich wie eine Blaupause von Antisemitismus und Judenverfolgung bis heute.

„Es gibt ein Volk, über die ganze Erde zerstreut“ steht da, „das seine besonderen Gesetze hält … und so Frieden und Einigkeit im Reich durch seinen Eigensinn verhindert.“ Juden werden zu Sündenböcken erklärt für alles was im persischen Reich schief läuft. (Stück zu Esther 1,3f)

Aber das Estherbuch hält dagegen. Erzählt vom Widerstand der Esther. Und es legt offen wie perfide diese Blaupause funktioniert. Esthers Botschaft dagegen ist: jüdisches Leben und jüdische Menschen sind Teil des persischen Reiches. Und es profitiert davon, wenn es echte Religionsfreiheit möglich macht: Frieden gedeiht, wenn verschiedene Religionen aktiv teilhaben können und wollen. Heute ist es an uns, dass wir Antisemitismus nicht dulden. Und selbst eine Gegengeschichte gegen Antisemiten sind.

 

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