SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Der Abend des Tages ist auch ein Sinnbild für den Abend des Lebens. Eine Zeit, in der man zurückschaut, auf das, was war. In der Tradition der Kirche wird abends ein Lied aus der Bibel gesungen. Es ist das Lied, das der alte Simeon singt, als er Jesus als Baby auf dem Arm hält. Ein starkes Bild! Der eine hat sein ganzes Leben gelebt, beim Säugling fängt es gerade erst an. In der Bibel wird erzählt, dass Simeon, als gläubiger Jude sein ganzes Leben lang darauf gewartet hat, dass ein Erlöser für sein Volk geboren wird. Und jetzt wird seine große Ausdauer belohnt. Er hält den neugeborenen Erlöser auf dem Arm. Vermutlich wird er nicht mehr erleben, was dieser Säugling vollbringt, wenn er erwachsen wird. Aber ihm genügt schon dieser Moment. Er singt davon, dass er sein ganzes Leben lang auf diesen Moment gewartet hat. Und davon, dass er im Frieden mit sich selbst sterben kann, jetzt, wo er weiß, dass die Zukunft mit diesem Kind gut wird. Er ist voller Optimismus, aber nicht nur für sich und sein Volk, er meint sogar, dass die gute Zukunft seines Volkes auch allen anderen Völker und Religionen etwas Gutes bringt.  Über das Kind, das er im Arm hält, sagt er, es sei „ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für sein Volk Israel.“

Was mich daran berührt, ist die Offenheit, die er in diesem Moment für die anderen hat, auch für die, die etwas anderes glauben als er. In diesem Augenblick, wo er seine eigene Hoffnung erfüllt sieht, ist er sogar der Überzeugung, dass auch das in Erfüllung geht, was die anderen sich für eine bessere Zukunft erhoffen.

Mir gefällt das auch, weil es nicht um ein egoistisches „Ich zuerst, dann die anderen“ geht. Und schon gar nicht um Rechthaben, oder um eine Wahrheit, bei der die einen im Unrecht sind und die anderen Recht behalten. In dem Moment, wo er dieses Kind auf dem Arm hat, wird ihm klar, dass alle auf dem Weg zu etwas Gutem sind: Simeon ist am Ziel angekommen. Was mich daran berührt, ist aber, dass er dadurch auch offen wird für das, was andere denken. Er muss nicht seine Religion gegen andere verteidigen. Für ihn ist es offensichtlich, dass Gott kein Entweder-Oder kennt, wenn es ihm um die Menschen geht. Simeon ist überzeugt, dass das, was er an Gutem geschenkt bekommt, auch allen anderen nützt. Auch denen, die andere Überzeugungen haben.

Wenn ich abends dieses Gebet von Simeon bete, versuche ich, diese Haltung einzuüben. Ich lasse den Tag Revue passieren und denke nochmals an die Situationen, wo ich mit Leuten zu tun hatte, die eine andere Meinung haben als ich. Und ich versuche, ihnen zuzugestehen, dass sie genauso das Gute suchen wie ich. Denn solange ich davon ausgehen kann, muss ich keinen vor die Alternative des Entweder-Oder stellen. Wir können beide auf verschiedenen Wegen ans Ziel kommen. Sowohl ich als auch der andere.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28338
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