SWR2 Wort zum Tag

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Die Tugend der Höflichkeit, das muss ich zugeben, stand lange nicht im Fokus meiner Aufmerksamkeit. Wenn ich anderen Menschen begegne, dann ist mir wichtig, dass die Begegnung echt ist, lebendig, wo möglich herzlich. Die formalen Regeln der Höflichkeit, so hatte ich lange den Eindruck, sind für einen authentischen Umgang miteinander eher hinderlich.

Inzwischen aber merke ich: Es tut mir gut, höfliche Menschen zu treffen. Wahrscheinlich, weil Höflichkeit auch eine Form von Aufmerksamkeit ist. Wenn jemand sich im Gespräch erst kurz erkundigt, wie es mir geht, bevor er zur Sache kommt, entsteht daraus meist kein tiefgründiges Gespräch – und trotzdem habe ich das schöne Gefühl, dass ich als Person wahrgenommen werde. Und wenn jemand sieht, dass ich die Hände voll habe und mir deshalb die Tür aufhält, freue ich mich nicht nur über die Hilfe, sondern auch schon darüber, dass mich jemand bemerkt hat.

Der Benediktinerpater Anselm Grün hat aber noch eine andere Begründung, warum es wichtig ist, höflich miteinander umzugehen. Höflichkeit, so sagt er, schützt uns vor der Grobheit des anderen und vor unserer eigenen Härte. Wir brauchen diesen Schutz. Denn es überfordert uns, den Aggressionen anderer schutzlos ausgeliefert zu sein. Höflichkeit, so Anselm Grün, ist letztlich das Eingeständnis, dass wir alle schutzbedürftig sind.

Vielleicht geht die Sache mit der Höflichkeit aber sogar noch weiter. Anselm Grün zitiert eine indianische Weisheit: „Du lächelst, ich lächle, so sind wir beide glücklich, aber tief drunten, im Innern, ist Hass zwischen uns. Lass uns nicht zeigen, was wir innen fühlen füreinander. Lächeln wir weiter, bis wir unseren Hass hinweglächeln.“

Zuerst hat mich der Gedanke abgeschreckt. Das klingt wie ein Plädoyer für Heuchelei. Aber ich glaube, es ist wahr: Ein höflicher Umgang miteinander kann mehr sein als eine schöne Fassade. Ein aufmerksames, freundliches Miteinander kann tatsächlich auch unser Inneres beeinflussen. Und dabei helfen, Hassgefühle zu überwinden.

Die Gedanken von Anselm Grün haben die Tugend der Höflichkeit für mich in ein neues Licht gerückt. Ich verstehe ihren Sinn jetzt besser, als Schutz für meine Seele und als Chance, friedlich miteinander umzugehen. Deshalb versuche ich auch, mich selbst mehr in Höflichkeit zu üben. Denn üben muss ich noch.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28124
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