SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

„Ich habe lange mit mir gekämpft“, hat die Frau zu mir gesagt. „Wer gibt schon gern die eigene Mutter ins Heim?“ Wir beide sind uns im Zimmer der Mutter begegnet. Das Zimmer war eigentlich ganz nett, hell und sauber, trotzdem hat die Tochter sich nicht wohl gefühlt. Als die Mutter noch in ihrer eigenen Wohnung leben konnte, hat die Tochter sie jeden Tag nach der Arbeit besucht. Bis die Mutter nicht mehr allein bleiben konnte. Immer vergesslicher ist sie geworden. Letztes Jahr hat sogar die Küche gebrannt. Sie hatte vergessen die Herdplatte auszumachen. Die Tochter war am Ende ihrer Kraft. „Sie müssen die Mutter ins Heim geben“, hat ihre Ärztin zu ihr gesagt. „Sie gehen sonst kaputt.“ „Ich kann das nicht“, hat die Tochter gedacht. 

Seit einem dreiviertel Jahr lebt die Mutter nun doch im Heim. Noch immer fällt es der Tochter schwer, sie dort zu besuchen. Das schlechte Gewissen lässt ihr keine Ruhe.

„Sind Sie neu hier?“, hat ihre Mutter sie letzte Woche gefragt. „Bringen Sie mir jetzt immer den Kaffee?“ Sie hat ihre Tochter angeschaut und sie nicht erkannt.

Die Mutter gehört zu den rund 1,5 Millionen Menschen in Deutschland, die an einer Demenz­erkrankung leiden. Die meisten haben die Alzheimer Krankheit. Die baut das Gehirn ab. Das Gedächtnis lässt nach und auch das Denken. Demenzerkrankte können ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen. Sie brauchen viel Betreuung und Pflege.

„Kennen Sie das Lied ‚Weißt du wieviel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt?‘“ hat mich die Tochter gefragt. „Früher hat mir meine Mutter dieses Lied vorgesungen. Jetzt bin ich es, die dieses Lied am Bett der Mutter singt, daran erinnert sie sich anscheinend noch. Manchmal singt sie mit.“

„Ja, ich kenne das Lied“, habe ich geantwortet. „Es geht so weiter: ‚Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet… Kennt auch dich und hat dich lieb‘. Ich bin sicher“, habe ich zu ihr gesagt, „Gott vergisst niemanden. Er kennt uns. Er kennt auch dieses Zimmer, dieses Heim und ihr schlechtes Gewissen, wenn Sie nach Hause gehen.“

Gott vergisst uns nicht. Ob dieser Gedanken die Tochter getröstet hat? Das wünsche ich ihr, wie ich es allen wünsche, die sich um kranke Menschen sorgen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28110
weiterlesen...