SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Der Gott, den es nicht gibt, in mir ein dunkler Riß,/ ist meiner Seele nah, sooft ich ihn vermiß.“ Ein abgründiger Zweizeiler ist das, ein Wortkonzentrat, das man sich auf der Zunge zergehen lassen muß - wie schweren Wein oder beste Speisen.  Christian Lehnert, evangelischer Pfarrer und vielfach ausgezeichneter Lyriker, hat das Gedicht geschrieben (Windzüge, Frankfurt 2o15, 49).  „Der Gott, den es nicht gibt, in mir ein dunkler Riß/ ist meiner Seele nah, sooft ich ihn vermiß.“

Vermissen hat immer mit Verlust zu tun. Da ist eine Leerstelle entstanden, die schmerzt.  Du fehlst mir.  Höchst paradox: Je inniger die Verbundenheit, desto schmerzhafter die Entfernung, gar der Verlust. Oder war es eher ein Abschied, auf Zeit nur oder für immer. Aber es gilt ja auch umgekehrt: mitten in der Abwesenheit entsteht eine besondere Art Gegenwart; man spürt, was man aneinander hat. Zart ist die Sprache, zärtlich das Zusammenspiel von Nähe und Ferne. Darf, ja muß man von Liebeschmerz sprechen? Von Sehnsucht in jedem Fall. So spricht dieses Gedicht von Gott: er wird schmerzhaft vermißt, „in mir ein dunkler Riß“. Da ist Trauer im Spiel, und zugleich Nähe. Als wäre das Ich selbst völlig erstaunt über den Gewinn im Verlust.

Manche sprechen freilich von Gott wie von einem guten Nachbarn, von alten Bekannten: vielleicht mal verreist, aber im Prinzip immer anrufbar und zuhanden. Bejaht und verneint, beschworen und verflucht, verwaltet und besprochen, verraten und verkauft, verehrt und verhöhnt – ein Allerweltsgott eben. Gewiss: Jesus hat Gott Papa genannt und das Vaterunser empfohlen.  Aber ob das zureicht, Gott zu duzen oder ständig mit eigenen Wünschen zu bombardieren? Solch ein Gott ist dem Gedicht abhandengekommen. „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“  Aber was, nein: wer dann?

Die schmerzende Leerstelle wird zur Fundstelle, die Gotteswunde zum Ort seiner Gegenwart im Vorübergegangen. Er oder sie ist da, indem sie nicht da sind: vorausgegangen, vorübergegangen, ein Gedicht wie ein Gebet. „Der Gott, den es nicht gibt, /in mir ein dunkler Riß,/ ist meiner Seele nah, sooft ich ihn vermiß.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28071
weiterlesen...