SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Mein Sohn: 16 Jahre auf 100 Seiten in vierhundert Bildern. Über viele Wochen hinweg habe ich in ungezählten Fotos sein bisheriges Leben noch einmal nachempfunden. Wichtige und schöne Momente habe ich ausgesucht und ein dickes Fotobuch zusammengestellt: als Geschenk zu seiner Firmung. Ich war unheimlich dankbar. Ich habe nicht unbedingt erwartet, dass er sich firmen lässt. Denn es gibt auch leere Seiten in dem großen Fotobuch. Sie erzählen von Zeiten, als es für ihn schwierig war. In dieser Zeit gab es kaum Kontakte zu Kirche und zur Gemeinde.

Ich habe die schwierigen Zeiten vorübergehen lassen, nicht versucht einzugreifen. Irgendwas hat mich davon abgehalten. Vielleicht einfach das Vertrauen darauf, dass Gott die Wege bereiten wird, wenn es denn so sein soll … und es kam so. Mein Sohn hatte von sich aus und ganz bewusst entschieden zur Firmung zu gehen, den Glaubensfaden wieder aufzunehmen. Nach der Firmung hat er gesagt, er fühle sich gestärkt. Er sei sicherer geworden. Und er hat erklärt, was es ganz konkret in seinem Leben bedeutet: „Wenn ich jetzt draußen am Fels klettern gehe, dann habe ich das Gefühl, dass mich mehr hält und schützt als das Seil und der Helm.“

Nun hat in diesem Jahr meine Tochter Firmung. Besser gesagt: Sie hätte Firmung. Sie hat sich dagegen entschieden. Sie sagt, sie sieht keinen Gott, sie fühlt keinen Gott und sie glaubt an keinen Gott. „Es bringt mir nichts, mich firmen zu lassen“. Weiter führen unsere Gespräche im Moment nicht. Überrascht hat mich das nicht. Sie hatte schon mit der Erstkommunion gehadert und verlässt heute selbst imposante Kathedralen nach wenigen Minuten, weil sie sich dort fremd fühlt.

Alle meine Kinder waren im selben katholischen Kindergarten, haben dieselbe katholische Sozialisation erlebt. Warum reagieren sie so unterschiedlich auf Kirche und Religiöses?

Ein Theologe hat mir erklärt: Es gibt auch eine religiöse Begabung, genauso wie es andere Formen der Begabung gibt. Es hat sie nicht jeder in gleichem Maß. Diese religiöse Begabung hilft uns, jene Dimension zu erfassen, die nicht greifbar ist. Jene Ahnung von Dingen, die sich nicht sichtbar erschließen. Ich vermute: mein Sohn hat diese Begabung mehr, meine Tochter eher weniger.

Ich denke es gibt zwei Dinge, die wir als Eltern oder Großeltern tun können: Wir müssen lernen zu lassen; die Wege Gottes zuzulassen. Und gleichzeitig sollten wir die Frage nach Gott wach halten. Im Gespräch bleiben über die existentiellen Dinge, die irgendwann jedem begegnen: Liebe und Freundschaft, Klima und Schöpfung, Schicksal und Tod, Ziel und Sinn des Lebens. Denn auch religiöse Begabung kann gefördert werden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28063
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