Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Der Vater ist an Demenz erkrankt. Seine Erinnerungen werden brüchig, von Monat zu Monat werden es weniger. Fast verzweifelt bemüht er sich nun darum, seine Erinnerungen an seinen Sohn weiterzugeben. Der soll jetzt die Erinnerungen des Vaters bewahren, damit sie nicht für immer verloren sind. Diese bewegende Geschichte erzählt der jüdische Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel in einem seiner Romane. Wiesel hat Auschwitz selbst erlebt und er hat es überlebt. Sich erinnern, die Erinnerungen bewahren und sie weitergeben. Für ihn ist das so etwas wie sein Lebensthema gewesen.

Das, was Elie Wiesel in seiner Geschichte erzählt, hat mich selbst auch schon beschäftigt. Nicht so dramatisch wie ihn. Aber auch ich lebe ja aus meinen Erinnerungen. Sie geben mir Antwort auf die Frage: Wer bin ich eigentlich und was hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin? Darum waren es für mich immer kleine Sternstunden, wenn mein Vater mir, oft spät am Abend, Geschichten von früher erzählt hat. Wenn ich teilhaben durfte an seinen Erinnerungen. Seine Erinnerungen sind so auch meine geworden.  Und vieles an ihm  habe ich dadurch besser verstanden. Mein Vater ist inzwischen über 80. Und manchmal schwant mir, dass ich so vieles noch nicht weiß. Von seinen Geschichten. Wie es war als Kind im Krieg. Als junger Mann im Aufbruch der 50er Jahre. Vielleicht werde ich bald keine Möglichkeit mehr haben, ihn danach zu fragen. Und seine Erinnerungen, seine Geschichten, die ja irgendwie auch meine sind, wären für immer verloren.

Wenn heute wieder laut gefordert wird, die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen. Endlich Schluss zu machen mit den alten Geschichten von Krieg, Vertreibung und Not. Wenn Politiker im Parlament über den Müllhaufen der Geschichte schwadronieren, dann macht mich das wütend. Weil ich glaube, dass wir das Heute nicht verstehen können, wenn wir das Gestern nicht kennen. Ich würde mir vielmehr wünschen, dass wir uns noch mehr und öfter von unseren Erinnerungen erzählen. Wir, die wir hier schon lange hier leben und auch jene, die in den letzten Jahren neu dazu gekommen sind. Damit wir uns verstehen lernen, solange es möglich ist.

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