Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Zwischen den Feiertagen im Winter liegen im Krankenhaus nur wenige Patienten, die meisten versuchen, nach Hause zu kommen. Aber Verkehrsunfälle passieren ja und ich lernte einen Herrn kennen, der nach ein paar Tagen Intensivstation eigentlich schon wieder auf dem Weg der Besserung war.

Deshalb konnten die Krankenpfleger ihm auch den Katheter ziehen. Statt sich zu freuen, reagierte er ganz verstört. Als sie ihn dann zur Ablenkung in die Ergotherapie bringen wollten, blieb er in der Tür erstarrt stehen und eilte dann in sein Krankenzimmer zurück ohne ein Wort.

Später erzählte er mir seine Geschichte.

Als er 6 Jahre alt war, hatte er öfter er mit einer Freundin auf dem Spielplatz gespielt. Einmal kam ein Mann. Die Freundin rannte weg. Der Mann missbrauchte ihn. Als er nach Hause kam, glaubten die Eltern ihm nicht und bestraften ihn, weil er zu spät gekommen war.

Später schickten sie ihn in ein Internat – zur Abhärtung. Als er ungefähr 16 war, wurde er in der Klasse das Mobbing-Opfer – ohne bestimmten Grund. Die Mitschüler lockten ihn in den Kunstsaal. Sie banden ihn auf einem Tisch fest  und verprügelten ihn. Er musste die Schläge laut mitzählen und um weitere Schläge bitten.

Als er jetzt im Krankenhaus, 40 Jahre später, von Männern berührt wurde, hatte er einen Flashback, eine Art Rückblende in sein 6. Lebensjahr. Und in der Tür des Raumes der Ergotherapie fühlte er sich wieder wie mit 16 in der Tür des Kunstsaales.

Er hat viele Jahre Therapie gemacht, aber diese Missbrauchs-Erfahrungen haben sich in seinen Körper eingeschrieben. Als er sieht, dass ich Tränen in den Augen habe, gibt er mir ein Taschentuch. Diese freundliche Geste tröstet uns beide wenigstens ein bisschen.

Trotzdem bleibt für mich erschreckend, wie tief sich diese schlimme Erfahrung in seinen Körper eingegraben hat.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27866
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