SWR2 Wort zum Tag

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Scherben gibt es bei uns immer mal wieder. In einer lebhaften Familie geht im hektischen Alltag ab und zu etwas zu Bruch – ein Glas, ein Teller, neulich sogar eine Scheibe. Ich habe mir angewöhnt, mich nicht größer darüber aufzuregen. Ich kehre die Bruchstücke zusammen und werfe sie in den Müll.

Man kann mit Scherben aber auch anders umgehen. Das habe ich gemerkt, als ich von einer alten japanischen Tradition gehört habe. Sie nennt sich Kintsugi – Goldreparatur. Wenn eine gute Keramikschale zerbricht, wird sie nicht weggeworfen. Und auch nicht einfach wieder zusammengeflickt. Nein, die Bruchstücke werden mit einem Lack zusammengefügt, dem Gold oder auch Silber beigefügt ist. So bleiben die Bruchstellen sichtbar – aber sie nehmen der Schale nicht ihre Schönheit. Im Gegenteil: Die feinen, goldglänzenden Linien machen sie besonders einzigartig und kostbar.

Mir gefällt diese Idee. Schon allein deshalb, weil sie ein nachhaltiger Gegenentwurf zum schnellen Wegwerfen und Neukaufen ist, das sich heute durchgesetzt hat.

Aber da ist noch mehr. Ich finde, diese Art, zerbrochene Dinge wertzuschätzen, sie zu geduldig zu reparieren, aber dabei die Bruchstellen nicht zu verstecken, sondern sie als besonders kostbare Spuren sichtbar zu machen – all das hat auch einen symbolischen Wert. Denn in unserem Leben geht ja oft noch mehr zu Bruch als Keramikschalen oder Glasscheiben: Beziehungen können zerbrechen und von großen beruflichen Plänen sind manchmal nur noch Bruchstücke übrig.

Tatsächlich hat Kintsugi, die Goldreparatur, auch spirituelle Wurzeln. Sie ist Ausdruck einer besonderen Ästhetik, die vom Zen-Buddhismus entwickelt wurde. Wabi-Sabi heißt sie. Sie schätzt die Einfachheit und sieht die Schönheit im Vergänglichen und Fehlerhaften.

 „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ (Jesaja 42,3) Dieser Satz stammt nicht aus der japanischen Tradition, sondern aus dem biblischen Buch des Propheten Jesaja. Für mich drückt sich darin aber ein ähnlicher Gedanke aus. Der Prophet hat erfahren: Sein Gott wirft nicht einfach weg, was kaputt gegangen ist. Gott sieht geduldig auf das Beschädigte, er schätzt und schützt es – und sorgt dafür, dass es neu werden kann.

Mit diesem freundlichen Blick möchte ich gerne auf die Bruchstellen in meinem Leben blicken können: Ja, es braucht manchmal Mut, sich überhaupt mit dem Zerbrochenen zu beschäftigen und es nicht einfach wegzuwerfen. Es braucht Geduld, bis die Scherben wieder zusammengefügt sind. Und die Spuren bleiben sichtbar. Aber ich muss sie nicht verstecken. Denn sie sind wertvoll. Und machen mein Leben erst recht kostbar.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27764
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