SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Später Nachmittag. Rushhour im Mainzer Hauptbahnhof. Unser Zug hält und nichts geht mehr. „Wegen eines Notarzteinsatzes am Gleis wird sich unsere Abfahrt auf unbestimmte Zeit verzögern.“ Vielfahrer kennen und fürchten das. Es bedeutet meistens stundenlange Verspätungen, verpasste Termine und genervte Fahrgäste. Und manche lassen ihren Frust dann am Zugführer aus. Schimpfen auf die vermeintliche Mistfirma, die nun ihren Tagesplan durcheinander bringt. „An alle Fahrgäste unserer Mistfirma“ tönt es plötzlich aus dem Lautsprecher im Zug. „Für alle, die es noch nicht begriffen haben. Da vorne auf der Strecke ist eben ein Mensch gestorben und darum fahren wir jetzt nicht mehr weiter!“

Die Ansage hätte er so bestimmt nie machen dürfen. Aber seinen Ärger über die schimpfenden Fahrgäste kann ich trotzdem verstehen. Hinter manchen betont nüchternen Ansagen verbergen sich manchmal nämlich menschliche Tragödien. Einen Menschen zu überfahren ist ein Trauma für jeden Zugführer. Und meistens ist es leider auch die tieftraurige Geschichte eines Menschen, der für sich keinen Ausweg mehr gesehen hat.

Und genau darum fand ich den wütenden Gefühlsausbruch dieses Zugführers auch so passend wie wohltuend. Weil er die übliche geschäftige Routine jenes Nachmittags für einen Moment durchbrochen hat. Und weil er mich und die anderen daran erinnert hat, dass es manchmal Wichtigeres im Leben gibt, als zeitig zu Hause zu sein. Auch ich bin erst viel später als sonst daheim gewesen. Aber dafür habe ich an diesem Abend noch ziemlich lange an einen fremden Menschen gedacht, der auf meiner Strecke den Tod gefunden hat.

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