SWR2 Wort zum Tag

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Wie oft liege ich daneben, wenn ich andere Menschen einschätze. Und offensichtlich bin ich nicht allein. Denn Psychologen haben herausgefunden: Wie wir jemanden einschätzen, hängt viel mehr mit der Person selbst zusammen als vielleicht mit den äußeren Umständen, die dazu geführt haben, wie jemand erscheint. Also bei einem erfolgreichen Unternehmer denken die meisten eher, dass er sein Vermögen erreicht hat, weil er so fleißig war, als dass er vielleicht geerbt hat, oder einfach nur Glück hatte. Und bei einem Obdachlosen am Straßenrand vermuten viele schneller, dass er Alkoholiker ist und seine Situation selbst verschuldet hat als dass eine Kette von unglücklichen Schicksalsschlägen ihn dahin gebracht hat.

Bei mir kommt es vor, wenn ein Schüler unentschuldigt beim Unterricht fehlt. Wie schnell unterstelle ich ihm, dass er schwänzt, weil er keine Lust hat. Das ist vorschnell und meistens falsch. Es ist eben nur eine Möglichkeit unter vielen anderen.

Wenn das aber so ist, dass ich diesen Fehler immer wieder mache, frage ich mich, wie ich Menschen besser gerecht werden kann.

Das wird noch schwieriger, wenn ich berücksichtige, dass oft der erste Eindruck prägend ist. Ich bilde mir innerhalb von Sekunden ein erstes Urteil über andere Menschen. Meistens bin ich da nur am Vermuten aufgrund von Äußerlichkeiten. Wenn ich jemanden neu kennen lerne, geht es gar nicht anders. Aber wenn ich anderen Menschen langfristig gerecht werden will, kann ich es nicht dabei belassen.

Mir hilft es, wenn ich mir  in solchen Situationen selber über die Schulter schaue. Dann merke ich, wenn ich anstatt sachlich zu beobachten Vermutungen anstelle, die ich dann für wahr halte und damit meine Urteile fälle. Wenn ich das bemerke, versuche ich, andere Vermutungen daneben zu stellen und offen zu sein, für das, was wirklich ist. Wenn ich mir zum Beispiel bei dem Schüler, der angeblich schwänzt, auch andere Gründe vorstellen kann, aus denen er wegbleibt: Weil er Angst hat, dass die anderen Mitschüler ihn nicht mögen oder dass er sich blamiert. Und diese Angst haben auch motivierte Schüler.

Ich habe es schon ausprobiert, dass ich offen bleibe und neugierig bin auf das, was tatsächlich hinter so einem Verhalten steckt. Und der Clou ist, dass ich diesen Schülern plötzlich ganz anders begegne. Manchmal entwickelt sich sogar so ein Vertrauen, dass sie mir von sich erzählen und sich ändern. Und das vielleicht nur, weil ich offen dafür bin, dass das, was ich über andere denke, nur eine von vielen Möglichkeiten ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27552
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