SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Gibt es in meinem Freundeskreis einen Armen? Einen Menschen, der nicht genügend verdient, um über die Runden zu kommen und deshalb auf staatliche Hilfe angewiesen ist? Einen, der auf der Straße lebt oder im Männerwohnheim wohnt? Einen, der aus dem Rahmen fällt, weil er sich nicht oft genug wäscht und muffig riecht? Einen, der eine sichtbare Macke hat und deshalb von den meisten anderen gemieden wird? ...

Nein, so jemanden gibt es in meinem Freundeskreis nicht. Das bedaure ich. Es betrübt mich. Ich schäme mich deswegen. Weil Jesus ja gerade solche Leute in seine Nähe geholt hat. Weil er sich um sie gekümmert und ihnen - wo immer möglich - geholfen hat. Weil er sie eingeladen hat, in seinen Jüngerkreis zu kommen, um mit ihnen durchs Land zu ziehen. Weil ich weiß, dass Jesus das aus einem klaren Grund getan hat: Weil er an einen Gott glaubt, der so ist. Einen Gott, der sich besonders um die Armen sorgt.  Und weil das eine der ersten und vornehmsten Pflichten der Kirche Jesu Christi sein müsste: sich um die Armen aller Art zu kümmern.

Wenn ich einem Menschen begegne, der offensichtlich ein Problem hat, und ich kann helfen, dann tue ich das. Ich achte auf das, was um mich herum geschieht und laufe normalerweise nicht weg, wenn etwas auf mich zukommt, das unangenehm sein und mich Zeit kosten könnte. Ich habe wenig Berührungsängste und lehne andere nicht ab, weil sie dreckige Hände haben oder in meinen Augen schlecht angezogen sind. Aber das bleiben Einzelfälle. Es entstehen daraus keine engeren Beziehungen, keine Freundschaften. Es bleibt eine Distanz, die etwas Professionelles an sich hat. Und ich weiß auch, woran das liegt: Weil ich meinen Freundeskreis als Rückzugsort brauche, weil ich dort unter Meinesgleichen sein will. Es soll dort schön und aufgeräumt sein. Wenigstens ein bisschen heile Welt, wo es doch sonst so viele Probleme gibt.

 

Und ich fürchte, genau darin liegt mein Irrtum: Es gibt diese heile Welt so nicht. Es könnte doch sein, dass ausgerechnet ein vermeintlicher Sonderling mehr Glück verbreitet, weil er mit seinem Leben ganz zufrieden ist. Nein, ich will die Armut nicht verklären oder klein reden. Trotzdem: Wer arm ist, muss nicht automatisch unglücklicher sein als ich. Womöglich könnte ich von ihm lernen, wie es geht, mit wenig zufrieden zu sein, und so das Leben, das nackte Leben, mehr zu schätzen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27542
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