SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

„Wir haben das nicht gewusst.“ Am Ende des Zweiten Weltkriegs haben viele Deutsche diesen Satz gesagt. Wenn sie auf die Gräueltaten angesprochen worden sind, die Deutsche verübt haben. Dass Behinderte ausgesondert und umgebracht worden sind, weil sie nicht ins Bild der gesunden Rasse gepasst haben. „Das haben wir nicht gewusst.“ Dass Millionen von Juden verschleppt, misshandelt und ermordet wurden. „Davon haben wir nichts gewusst.“ Dass Kommunisten, Homosexuelle, sog. Zigeuner und andere Unangepasste ins KZ gesteckt worden sind. „Davon wissen wir nichts.“ Wie kann das sein, frage ich mich. Kann man so blind sein? Kann man so gut verdrängen? Kann man sich bloß um sich selbst kümmern?

Vielleicht kann man das. Für mich selbst weiß ich aber: Ich darf das nicht. Ich muss die Augen offen halten. Was es zu sehen und zu wissen gibt, das darf ich nicht ignorieren. Ich lebe nämlich nicht allein, sondern mein Leben ist unabänderlich mit dem von anderen verbunden. Für mich allein kann ich gar nicht überleben. Ich bin immer auf andere angewiesen und sie auf mich. Das bedeutet: Ich muss mich dafür interessieren, wie es anderen geht, was ihnen fehlt, wo sie Hilfe brauchen, wo ihnen Unrecht angetan wird. Im Großen gilt das: Also dort, wo Politik gemacht wird, wo die Entscheidungen getroffen werden, die über die Zukunft unseres Landes, ja der ganzen Menschheit bestimmen. Da darf ich nicht wegschauen, wenn andere auf die Straße gehen und „Ausländer raus!“ schreien. Dem muss ich meine Einstellung entgegen halten. Offen, deutlich und unüberhörbar. Ich muss es hier im Radio sagen, aber auch da, wo solche Töne sich leise regen - im Bekanntenkreis oder wenn ich beim Bäcker in ein Gespräch verwickelt werde: „Ich habe keine Angst vor den Fremden. Ich bin nicht in Sorge zu kurz zu kommen.“ Was für die großen Themen der Gesellschaft gilt, gilt aber auch für mein unmittelbares Umfeld. Gerade da wird sich zeigen, ob ich wegschaue und so tue, als wüsste ich von nichts. Wenn ich mitkriege, dass mein Nachbar Probleme hat und ich ihm nicht ausweiche. Wenn ein Schüler auf dem Schulhof ausgeschlossen wird und ich für ihn Partei ergreife.

Unwissenheit schützt nicht vor Strafe. Das ist ein altes Prinzip der Rechtsprechung. Es appelliert daran, dass ich gut daran tue, mit offenen Augen durch die Weltgeschichte zu gehen. Dass ich aufmerksam bleibe und mich traue, den Mund aufzumachen, wenn mir Unrecht begegnet.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27541
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