SWR4 Abendgedanken

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Meine Großmutter ist 102 Jahre alt geworden. Ist das gerecht? Dass sie so alt wird und andere viel früher sterben müssen. Die Frage hat sich mir nie gestellt. Ich habe meine Oma sehr geliebt und war  um jeden Tag froh, den sie gelebt hat. Zumal sie bis ganz zum Schluss fit war. Sie konnte immer laufen, hat sich an so gut wie alles erinnert und es hat mir Freude gemacht, mich mit ihr zu unterhalten. Ja, sie ist richtig alt geworden, meine Großmutter, älter als die meisten. Aber ob das gerecht ist, im Vergleich mit anderen, das hat mich schlicht nicht interessiert, weil ich nicht verglichen habe.

Trotzdem verstehe ich, was damit gemeint ist. Wenn man vergleicht, dann stellt man fest, dass es für die Zeitspanne des Menschenlebens eine enorme Bandbreite gibt. Manche werden alt, andere sterben jung. Die einen bleiben gesund bis ins hohe Alter, die anderen tragen von Kindheit an schwere Krankheiten mit sich herum. In den reichen Ländern gibt es riesige medizinische Anstrengungen, um den Tod so lange wie möglich hinaus zu schieben. In Afrika sterben Kinder, weil sie nichts zu essen haben. Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Wenn wir davon ausgehen, dass jedes Menschenleben gleich viel wert ist. Der Zeitpunkt des Todes scheint etwas anderes, geradezu das Gegenteil auszudrücken. Sobald wir vergleichen - und das tun wir ja unwillkürlich - geht es alles andere als gerecht zu.

Ich frage mich: Hat das womöglich mit dem, was wir unter gerecht verstehen, gar nichts zu tun:  die Länge des Lebens, das Maß an Gesundheit? Dazu müssten wir ja ein Recht auf ein bestimmtes Maß haben. In etwa: Ein normales Leben dauert 80 Jahre, zwei Krankheiten ab 65 sind erlaubt. Aber so wie unsere Welt konstruiert ist, funktioniert das eben nicht. Unser Leben ist zerbrechlich. Wir haben von Anfang an Grenzen. Wir haben vieles nicht in der Hand, auch wenn wir so tun als ob. Wir sind gleich, was den grundsätzlichen Wert angeht und den Schutz, den wir verdienen. Aber in unseren Anlagen sind wir höchst unterschiedlich. Und so hart es klingen mag: Wir haben kein Recht auf eine bestimmte Lebenszeit und ein bestimmtes Maß an Gesundheit, das uns von Krankheiten verschont.

Ich meine das keineswegs lieblos. Ich liebe mein Leben und möchte gern alt werden. Aber ich sage mir auch immer wieder: „Thomas, Du hast keinen Anspruch darauf. Jeder Tag ist Dir geschenkt.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27539
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