SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Im Sommer habe ich meine Tanten und Onkel in der Steiermark besucht. Viele von ihnen sind weit über 80 Jahre alt. Ich habe sie gebeten: „Erzählt mir von früher!“ Eine Geschichte werden sie alle nie vergessen:

Am 20. April 1945 stehen auf einmal Soldaten in der Tür bei meinen Großeltern. Sie holen meinen Großvater Emmerich von seinem Bauernhof. Seine Frau und die Kinder bleiben ratlos und völlig verängstigt zurück. Sie bringen ihn in die nächste größere Stadt, nach Feldbach. Dort sitzen drei Männer als Richter. Mein Großvater kennt sie flüchtig. Ein Lehrer ist dabei, ganz normale Leute aus der Gegend. Kurz vor Kriegsende halten sie Gericht über unliebsame Nachbarn. Meinem Opa werfen sie vor, schlecht über den Krieg und die Nazis gesprochen zu haben. Sie wollen nicht lange verhandeln und verurteilen meinen Opa zum Tode. Am nächsten Morgen soll er erschossen werden.

Über Nacht sperrt man ihn in den Keller der nächsten Kaserne. Kein Abschied mehr möglich, einfach nur warten. Da fliegt plötzlich das Munitionsdepot der Kaserne in die Luft. Alles rennt durcheinander, keiner weiß, was los ist. Da überlegt mein Opa nicht lange. Er bricht die Kellertür auf und flieht im Schutz der Dunkelheit.

Am nächsten Tag suchen die Nazis überall nach ihm. Kinder und Jugendliche müssen Flugblätter verteilen, um ihn zu finden. Doch mein Großvater kann sich bei seinem Schwager verstecken. 18 Tage später ist der 2. Weltkrieg vorbei und mein Opa  kehrt zu seiner Familie zurück.

Damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Ein paar Jahre später geht mein Großvater zum Elternabend in die Schule. Dort sitzt der Lehrer vor ihm, der ihn damals verurteilt hat. Beide sind wie vor den Kopf gestoßen. Der Lehrer bringt kein Wort heraus. Doch mein Opa fragt nur, wie es um seine beiden Söhne in der Schule steht.

Später will seine Familie wissen: „Wie konntest du nur so ruhig bleiben?“ Er sagt: Ich bin Christ und gehe sonntags in die Kirche. Wenn ich es nicht schaffe zu vergeben, was bringt dann der Glaube?

Ich bin stolz auf meinen Opa, und bedaure es jetzt umso mehr, dass ich ihn nicht mehr kennen gelernt habe. Er zeigt mir, was es heißt, mutig zur eigenen Meinung zu stehen. Und vor allem: was es bedeuten kann, anderen zu vergeben. Mein Opa war ein einfacher Bauer in der Steiermark - für mich ist er ein Held.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27462
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