SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Im Herbst fällt das Licht durch die Bäume wie aus einer anderen, freundlichen Welt. Ich mag das warme Licht des Herbstes. Es ist nicht so unbarmherzig wie ein sehr heller Sommertag, der jede Falte ausleuchtet. Ein wenig unentschieden wirken diese herbstlichen Tage. So wie Wechselwähler vor dem Wahlzettel. Bin ich noch Sommer oder ist hier schon der Vorgeschmack des Winters? Das milde Licht des Herbstes erinnert mich daran, dass man das Leben so ansehen kann: Herbst-milde. Und dass man dabei auch ein bisschen unentschieden sein kann, wie der Herbst selbst. Es fällt schwerer, jemanden zu verurteilen, wenn man weiß, dass das Leben nicht immer klar und einfach ist. Manche Leute nennen diese Haltung auch altersmilde. Vielleicht, weil manche weisen alten Menschen so milde sind. Gute Großväter und Großmütter, die wissen, dass ihre Enkel diese besondere, liebevolle Nachsicht brauchen. Leider ist der Umgang von Menschen untereinander selten von dieser Milde gekennzeichnet.

Besonders vor Wahlen wird der Ton rau. Bei allem Verständnis für notwendige harte politische Auseinandersetzungen, so wichtig es ist, klar Stellung zu beziehen: Der politische Gegner ist kein Feind, sondern bleibt Mensch. Es ist so wichtig, dass wir da auf unsere Sprache achten. Es ist brandgefährlich, wenn Menschen nicht mehr als Menschen bezeichnet werden. Mag sein, dass Wahlkampfzeiten keine Zeiten der Milde sein können. Eine Schwester der Milde, die Weisheit, ist aber ein wichtiger politischer Ratgeber.

Herbstmild zu sein hat tatsächlich viel mit Weisheit zu tun. Schließlich lehrt die Psychologie, dass das, was Menschen am schärfsten verurteilen, am lautesten beschimpfen, auf eigene, verborgene Ecken hinweist. Weise Menschen kennen auch ihre eigenen Abgründe. Die Weisheit lehrt dann auch, wann ich die Abgründe anderer milde ertragen und wann ich entschieden dagegen Position beziehen muss. Ich selbst schätze es, wenn andere nachsichtig mit mir umgehen, das bedeutet nicht, dass sie mich kritiklos hinnehmen. Manchmal kann ich andere nur um Vergebung bitten. Und darauf hoffen, dass sie mir gewährt wird. „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ bedeutet nicht, dass man Anspruch auf diese Vergebung hat.

Das Licht im Herbst ist mild, dem Auge angenehm dringt es durch die Blätter des Waldes. Es tut einfach gut, Herbst-milde zu sein und Herbstmilde zu erleben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27422
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