SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Seltsam, im Nebel zu wandern“, „wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben“ – Wer sich auf Herbstgedichte einlässt, gewinnt leicht den Eindruck, dass es von nun stetig abwärts geht - sowohl mit dem Jahr als auch mit der Lebensfreude. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr“ – irgendwie scheint es, als ob das Leben im Herbst alle Karten ausgespielt und kein As mehr im Ärmel hätte. Sicher: Die Sonne scheint weniger in diesen Herbstzeiten, morgens legt sich noch häufig Nebel über die Erde und das fördert bei manchen Menschen die Niedergeschlagenheit. Doch ich mag dem Herbst und dem Nebel auch schöne Seiten abzugewinnen. Das Licht ist weicher in diesen Zeiten, die bunten Farben der Blätter tragen das Ihre dazu bei, dass der Herbst alles andere als ständig grau daherkommt. An vielen Tagen in diesem Oktober ist er mir tatsächlich als Goldener Herbst begegnet. Auch mit dem Nebel kann ich mich anfreunden – wenn ich einmal vom Autofahren absehe, da schätze ich ihn gar nicht und finde ihn gefährlich. In der Dichtung wird der Nebel manchmal zum Nebelmantel, den sich Berge oder Prinzessinnen oder Zwerge umlegen. Der Nebel schützt dann diejenigen, die er wie ein Mantel umhüllt. Manchmal möchte ich mich gerne in einen Nebelmantel hüllen. Meine verletzlichen Seiten will ich nicht einem unbarmherzig harten Licht ausgesetzt sehen. Im Nebel sind sie geschützt. Schließlich verwehrt der Nebel den Zugriff des Lichts, er reflektiert und blendet diejenigen, die versuchen, ihn mit dem Scheinwerfer zu durchdringen. Im Nebel muss man sich behutsam vorantasten, so wie bei einem Menschen, dessen Vertrauen man gewinnen will. Diesen behutsamen Umgang miteinander kann der Herbst mit seinen Nebeltagen lehren.

In der poetischen Sprache der Schöpfungsgeschichte sind die Menschen sogar aus Nebel gemacht, denn Gott erschafft den Menschen aus Erde, den der Frühnebel gefeuchtet hat. Vielleicht liegt es ja an diesen nebligen Anteilen meines Menschseins, dass ich den Nebel im Herbst so mag. Beim Spazierengehen im Nebel hat es für mich seinen Reiz, dass sich die Gestalten von Menschen nur langsam aus dem Dunst lösen und die Gesichter erst im letzten Moment erkennbar sind. Mich erinnert das daran, dass wir Menschen füreinander geheimnisvoll sind und bleiben, dass wir einander vielleicht erst dann wirklich erkennen, wenn wir uns ganz nah kommen. Wenn wir einander lieben können.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27420
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