SWR4 Abendgedanken

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Bald ist schon wieder Allerheiligen. Und ich werde auch dieses Jahr nicht auf den Friedhof gehen. Es ist nicht so, dass ich diesen Ort grundsätzlich meide. Im Gegenteil. Auf Reisen habe ich Friedhöfe oft als besondere Orte erlebt: Ich erinnere mich an einen Friedhof in Buenos Aires. Gräber so groß wie kleine Kapellen, reichlich frische Blumen und Kerzen. Ehrfürchtig bin ich durch diese so ganz eigene Welt gegangen, kleine Pfade und große Wege, fast schon Alleen. Oder ich denke an den alten Dorffriedhof in einer kleinen Gemeinde im heutigen Ungarn. Es war der Geburtsort unseres Opas. Wir haben fast 100 Jahre alte Grabsteine unserer Ahnen entdeckt und Vieles mehr aus der Dorfgeschichte erfahren.

 Trotzdem: Die Gräber meiner Großeltern, meiner Tanten und Onkels, selbst das meiner verstorbenen Freundin – ich habe sie nach der Beerdigung nur wenige Male besucht.

Mein Ort der Erinnerung an mir nahestehende Menschen ist einfach nicht der Friedhof.

Weshalb das so ist? Ich kann es nicht erklären. Wenn ich an einem Grab stehe, gibt es für mich keine Verbindung zum Verstorbenen – ich fühle mich dazu einfach nicht am richtigen Ort.

Ich habe eigene Wege gefunden, um zu trauern, um die Erinnerung zu bewahren: Viele Jahre habe ich meinen Kindern zum Einschlafen immer wieder ein ganz bestimmtes Lied vorgesungen, eines, das meine Freundin damals selbst sehr gerne gesungen hatte.

Und jetzt, wenn der Herbst da ist, dann ist die Zeit gekommen, meinem verstorbenen Patenonkel wieder näher zu sein.

Als er vor drei Jahren gestorben ist, hatte er einen ganz besonderen Nachlass für mich: Eine ganze Kiste voll Tee. Er hat die Nordsee geliebt. Von jedem Urlaub hat er neue köstliche Sorten mitgebracht. Viel mehr, als er das Jahr über trinken konnte.  Als sein Haus nach seinem Tod leergeräumt war, die Dinge verkauft und verschenkt – war noch diese eine große Kiste Tee übrig. Ich hatte das Gefühl, die hat er für mich gesammelt. Ich nahm sie zu mir. Es waren sicher 30 Tüten. In Goldpapier verpackter, loser Tee. Er duftet noch immer.

Während ich Tee trinke, werden meine Kinder an Allerheiligen mit der Oma auf dem Friedhof unterwegs sein. Und das ist gut so. Ich weiß, wie gerne sie zusammen Opas Grab besuchen. Sie brauchen diesen Ort, an den sie gehen können. Zu dem sie etwas für ihn mitnehmen können. Der Weg zum Grab ist für sie kein beschwerlicher, eher ein wohltuender Spaziergang, für den die Kinder früher oft lange gebraucht haben - weil sie so viele schöne Blumen und Steine am Wegrand für den Opa gefunden hatten.

Für diesen Herbst habe ich mir aus der Kiste eine Packung „Grüner Tee mit Zitronengras“ ausgewählt und eine „Roibusch mit Rosenblüten“.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27376
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