SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Das ist mir noch nie passiert: dass ich bei einem Konzert hemmungslos geweint habe und am Ende zum Applaus aufgesprungen bin. Es ist zwar schon eine Weile her, aber meine Erinnerung daran ist noch ganz lebendig. Es war bei einem Auftritt des Chores der Stuttgarter Vesperkirche, im letzten Winter.  „Rahmenlos und frei“, so heißt der Chor.

Etwa 20 Sängerinnen und Sänger sind auf der Bühne gestanden. Es war ihnen anzusehen: ihr Alltag ist kein geordneter; das Leben strengt sie an; es hat sie gezeichnet: einige hatten tiefe Furchen im Gesicht, manche einen krummen Gang. Wilde Haarmähnen die Einen, abgetragene Kleidung die Anderen. 

Als es still wurde im Saal und der Chor anstimmte, geschah etwas Faszinierendes: der volle Gesang hatte eine unglaubliche Kraft. Er war durchdringend, bis in die letzte Sitzreihe. Er war auf seine Weise erschütternd und drang ganz tief in mein Inneres, in meine Seele.

Eine kleine Frau mit vollem, grauem Haar, vielleicht um die 50, hat ein Solo gesungen, „I am sailing“ von Rod Stewart, hell und ganz klar. Doch es war so viel mehr als nur die Nachahmung großer Hits. Der Auftritt des Chores hatte eine dritte Dimension, sie war nicht sichtbar, ich konnte sie nur fühlen: Ich machte die Augen zu und lauschte. Diese Stimmen, sie waren so ganz anders als das, was ich erwartet hatte: Die Stimmen waren nicht verlebt oder zerschlissen, sie hatten weder Falten noch Furchen. Sie waren einfach nur schön.

Es heißt, die Stimme sei der „Spiegel der Seele“. Das wurde für mich in diesem Moment ganz konkret. Vielmehr noch schien mir das bestätigt, was ich über die Seele in einem Buch des Benediktinerpaters Anselm Grün gelesen hatte. Er schreibt: “Die Seele meint den inneren Raum des Menschen, in dem er frei ist von der Welt. Dort berührt es uns nicht, ob wir Geld haben oder nicht, ob wir gesund sind oder nicht. …Die Seele ist der Ort, in dem das innere Heiligtum des Menschen wohnt, über das die Welt keine Macht hat.“

Mit Hilfe der Musik und Dank der ehrenamtlichen Begleitung durch einen Profi-Musiker, hat der Chor der Vesperkirche etwas gezeigt: die Sängerinnen und Sänger haben die Verbindung zu ihren Seelen nicht verloren oder, falls sie verschüttet war, sie wieder frei gelegt.

Dieses Geschenk haben sie, die fast nichts haben, mit ihrem Publikum, das wohl fast alles hat, geteilt. Der ganze Saal mit mehr als 1000 Besuchern hat sich an diesem Abend vor ihnen verbeugt – mit langem Applaus und Standing Ovations.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27373
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