SWR2 Wort zum Tag

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Kaum zu glauben: der Fall der Mauer liegt fast schon 3o Jahre zurück. Immer weniger Menschen in Deutschland haben die Trennung zwischen Ost und West noch persönlich erlebt. Die Zahl derer, die an der Grenze gewartet und oft gezittert haben, nimmt deutlich ab. Aber viele können sich noch gut an die Teilung erinnern. Vor oder nach der Wende: dazwischen liegen Welten. Heute am Tag der deutschen Einheit gilt es inne zu halten: unglaublich viel ist seit 1989 geschafft worden. Man braucht nur durch Dresden oder Magdeburg zu flanieren, um die Unterschiede vor und nach der Wende zu sehen. Aber keineswegs alles Wünschenswerte ist schon gelungen. Immer noch sind die Löhne drüben und hüben ungleich, immer noch gibt es eine Mauer der Herzen zwischen Ost und West. Denn nicht wenige in Mittel- und Ostdeutschland fühlen sich weiterhin benachteiligt und überrumpelt. Der Tag der deutschen Einheit ist Anlass zum Dank, zweifellos. Aber nicht minder Herausforderung zu noch mehr sozialem Frieden.  Hass und Gewalt bleiben eine Gefahr, ja sie werden es. „Einigkeit und Recht und Freiheit“ - das ist schnell gesungen. Es will ständig neu errungen sein und muss immer neu durchbuchstabiert werden, um des wortwörtlich lieben Friedens willen.

„Einigkeit und Recht und Freiheit“ - das sind übrigens durchaus Kernworte christlicher Spiritualität. Waren es nicht engagierte Christinnen und Christen, die die Mauer zum Einsturz brachten?  Spricht die Bibel nicht auf fast jeder Seite von jenem Gott, der himmelschreiendes Unrecht erhört? Der Menschen befähigt, in seinem Geist aufzustehen und dem Geist der Freiheit und Gerechtigkeit Raum zu schaffen?  „Die Würde des Menschen, jedes Menschen, ist unantastbar“ - welch ein Satz am Anfang unseres Grundgesetzes.  Aber wie groß ist die Gefahr, dass er doch angetastet wird, der Satz und die Menschenwürde. Der heutige Tag der deutschen Einheit ist auch dazu da, solche Grundsätze und Grundwerte bewusst zu unterstreichen und mutig zu verwirklichen. Jeden Menschen wirklich zu würdigen, hieße ja, ihn in seinem Anderssein zu akzeptieren und in ihm Gottes Ebenbild zu erkennen. Ohne diesen Geist der Menschenwürdigung ist der soziale Friede immer gefährdet.   Das gilt für uns in Deutschland, das gilt für den Kontinent und den Globus.  Wäre z.B. das Projekt Europa überhaupt denkbar ohne diesen Geist des Christentums?  Da geht es um eine Zivilisation der Liebe: Einigkeit und Recht und Freiheit sind zugleich Ausdruck und Garant dafür.

Einigkeit und Frieden im gesellschaftlichen und politischen Bereich hängen engstens zusammen mit dem Frieden im eigenen Herzen. Das ist ein Zentralthema christlicher Spiritualität und Mystik.  Meister Eckhart z.B. schrieb: „So viel du in Gott bist, so viel bist du im Frieden. Und so viel du außerhalb Gottes bist, so viel außerhalb des Friedens“. Der Weltfrieden fängt im eigenen Herzen an. Je stimmiger und befriedeter mit sich selbst, desto friedfertiger auch für andere.  Wie aber kann ich die vielen Stimmen und Tendenzen in mir unter einen Hut bringen und wirklich Ich sagen?  In christlicher Perspektive stiftet nichts so viel Frieden wie die Orientierung am Gott Jesu. Die betende Verbindung mit ihm hilft zur Versöhnung mit sich selbst und anderen. Deshalb heißt ein Grundwort christlicher Mystik „heilige Kommunion“: die Union, die Begegnung und Verbundenheit zwischen Gott und Mensch schafft Frieden. Jesus ist das beste Beispiel dafür.  Auch wenn man ihn umgebracht hat und so viele seitdem, sein Geist der Einheit und der Güte ist für viele schon zur Quelle größeren Friedens geworden - so wie damals Leipzig und Dresden.  Da haben bekanntlich Gottesdienste, Gebete und Lichterprozessionen die Mauer zum Einsturz gebracht. Am Tag der deutschen Einheit gilt es dankbar daran zu denken. Aber wie viel bleibt zu tun. Mindestens Innere Mauern gibt es noch genug, und die gefährden die Einheit und den Frieden. Nichts ist deshalb wichtiger als der Geist Jesu und seine Praxis der Menschenwürde.  „So viel in Gott, so viel in Frieden“, und deshalb: „Einigkeit und Recht und Freiheit“.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27295
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