SWR2 Wort zum Tag

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„Einer trage des anderen Last…“ – ein geflügeltes Wort, ein christliches Ideal, praktizierte Nächstenliebe. Der Apostel Paulus hat das seinen Mitchristen in einem seiner Briefe geraten.

Doch oft erlebe ich das Gegenteil! Und zwar nicht deshalb, weil aus Egoismus niemand bereit wäre, jemand anderem eine Last abzunehmen, sondern schlicht deshalb, weil das Abgeben einer Last so schwer fällt. Wie oft höre ich beispielsweise von älteren Menschen den Satz: „Ich will meinen Kindern nicht zur Last fallen.“ Und wie traurig, wenn es dabei bleibt!

Das Leben ist doch ein Geben und ein Nehmen? Manchmal scheint es mir so zu sein, als würden die in unserer Zeit so hoch geschätzten Ideale der Autonomie und der individuellen Selbstbestimmung soziale Werte zum Verschwinden bringen Die Kinder – Eltern haben sie doch auch getragen, in jungen Jahren. Und waren sie dabei wirklich immer nur Last und Belastung?

Das Gesetz dieser Zeit scheint zu sein, dass jeder sein eigenes Päckchen tragen muss; wir sagen heute: mit sich selbst fertig werden muss. Ob im Angesicht einer tödlichen Diagnose, der Frage nach einem Altern und Sterben in Würde. Ob beim Verlust des Arbeitsplatzes oder beim Stress im Beruf. Manchmal tragen wir auch aneinander, wenn es denn wirklich sein muss. Doch aufs Ganze gesehen soll es ein Nullsummenspiel bleiben: Geben und Nehmen sollen sich die Waage halten, mindestens; besser noch: man belästigt andere nicht und macht die Dinge mit sich selbst aus.

Der Rat des Paulus – „einer trage des anderen Last“ – steht dem entgegen. Und er hat eine interessante Fortsetzung: „…so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“

Das Gesetz Christi steht gegen das Gesetz unserer Zeit. Es erinnert daran, dass wir einander tragen können und dadurch stärker werden. Wenn ich mit mir selbst fertig werden muss, dann gibt es niemanden, der meine Schuld oder meine Angst mitträgt, niemanden, dem ich meine Traurigkeit klagen kann. Freilich auch niemanden, mit dem ich Glück und Lebensfreude teile. Ein in dieser Weise selbst-bezügliches Leben ist ein einsames und armseliges Leben.

Dagegen ruft das „Gesetz“ Christi in die tragende Gemeinschaft von Mann und Frau, von Brüdern und Schwestern, von Eltern und Kindern, von Freunden, Nachbarn und sogar von einander Fremden. Und ich bin sicher, dass sich dabei die Erfahrung machen lässt, wie zutiefst menschlich, tragfähig und befreiend dieses „Gesetz“ Christi ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27259
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